Griechische Freiheit

Kürzlich bin ich über diesen Artikel von Richard M. Ebeling aus dem Jahr 2016 mit dem Titel Did the Ancient Greeks Believe in Freedom? gestolpert. Nachdem ich ihn gelesen hatte, beschloss ich, meine Gedanken dazu zu teilen. Ich denke, es enthält eine anachronistische und eher ethnozentrische Sicht auf die altgriechische Gesellschaft. Der Artikel befasst sich zwar mit einem faszinierenden Thema, nämlich der griechischen Freiheit, aber der Autor schafft es nicht, aus den vorhandenen Daten eine rationale Schlussfolgerung zu ziehen. Er scheint die Dynamik zwischen den antiken Griechen und ihren poleis zu verstehen, übersieht aber die Gründe für diese Dynamik. Am Ende macht sich eine Vorstellung griechischer Freiheit bemerkbar, deren zugrunde liegenden Prämissen Widersprüche aufweisen.

Ebelings Urteil basiert weitgehend auf das Problem der Sklaverei im antiken Griechenland und einen Vortrag des Staatstheoretikers Benjamin Constant (1767-1830), der aus naheliegenden Gründen nicht den neuesten Stand der Forschung wiedergibt. Die Sklaverei war eine brutale Institution, es besteht kein Grund, daran zu zweifeln. Allerdings dürfen wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Sklaverei in der Neuzeit nicht minder brutal war. Die Freiheiten und Rechte der Briten, Franzosen und Amerikaner, die Benjamin Constant in seinem Vortrag Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen aufzählt, kamen nur einer kleinen Gruppe von Menschen zugute. Ebenso dürfen wir nicht vergessen, dass die Sklaverei in den USA, Frankreich und Großbritannien erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts formal abgeschafft wurde. Aber das nur nebenbei bemerkt. 

Immer wieder höre und lese ich das Argument, dass die altgriechische Wirtschaft auf Sklaverei beruhte (was nur eine Seite der Medaille ist) und wir daher aufhören sollten, unsere Ahnen zu idealisieren. Persönlich stimme ich dem zu. Es gibt keinen Grund, das antike Griechenland zu idealisieren, zumal es viel spannender ist, einen genaueren Blick darauf zu werfen und die alten Griechen als reale Menschen kennenzulernen, mit ihren guten und schlechten Eigenschaften. Gleichzeitig gibt es keinen Grund, die griechischen Errungenschaften zu leugnen. Ohne den Hellenismos gäbe es keinen Humanismus, keine Aufklärung und keine Französische Revolution. Denn es war nicht das Christentum, das Europa halbwegs zivilisierte, wie vielerorts behauptet wird, sondern die Wiederentdeckung der griechischen Literatur im lateinischen Westen während der Renaissance. Und das kommt nicht von ungefähr: «Das geistige Prinzip der Griechen ist nicht der Individualismus, sondern der ‹Humanismus›, wenn es gestattet ist, das Wort bewußt in diesem seinem ursprünglichen antiken Sinne zu verwenden» (Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin/New York 1973, org. 1934, S. 13).

Das heutige Zeitalter, insbesondere die westliche Welt, wird oft als Inbegriff von Fortschritt, Gerechtigkeit und Innovation dargestellt. Ich halte das für kein überzeugendes Narrativ, es dient wohl eher der Rationalisierung des Status quo. Sind die westlichen Gesellschaften humaner als das antike Griechenland? Manche würden sagen «ja». Sind sie besser? Das würde ich bezweifeln. Das Leben von Leih- und Hilfsarbeitern kann wohl kaum als Zuckerschlecken bezeichnet werden. Die Altersarmut nimmt in einem alarmierenden Ausmaß zu. Die Bildungschancen von Kindern hängen stark von der sozialen Lage ihrer Eltern ab.

«Die moderne Vorstellung des Menschen als ein freies, autonom handelndes Wesen, das seine eigenen Ziele verfolgt und die Mittel selber auftreibt, um seine gewünschten Ziele zu erreichen, und generell für sich selbst lebt, war den alten Griechen eine fremde Vorstellung», sagt Ebeling. Die Möglichkeit für ein solches Leben mag für manche gegeben sein, jedoch ist es der Staat, der einen mehr oder weniger sicheren Rahmen bietet, in dem sich die Menschen keine Sorgen um ihre nächste Mahlzeit, wilde Tiere und andere Gefahren machen müssen, und in dem sie ihre individuellen Wünsche befriedigen können. Ohnehin handelt es sich bei dieser Freiheitsvorstellung eher um eine romantische Idealisierung als um eine Widerspiegelung der Realität.

Die sozioökonomischen Bedingungen, unter denen Menschen in der westlichen Welt leben, arbeiten und sterben, sind ziemlich hart und in vielen Fällen brutal. Darüber hinaus basiert die Wirtschaft westlicher Gesellschaften zum großen Teil auf der Sklaverei in anderen Teilen der Welt. Bestimmte Metalle und die seltenen Erden, die wir für unsere Mobiltelefone, E-Autos und das Militär benötigen, werden unter scheußlichen Bedingungen von Sklaven oder brutal ausgebeuteten und rechtlosen Arbeitern abgebaut. Tatsächlich geht die Erfüllung vieler unserer Wünsche mit Sklaverei, vernichtender Ausbeutung und schweren Menschenrechtsverletzungen einher. Um zu verstehen, was dies für die betroffenen Menschen und ihre Familien konkret bedeutet, müssen wir unseren Blick nicht in die Ferne richten, etwa nach Asien oder Afrika, denn moderne Formen der Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel gibt es auch in Europa. Auch das ist Teil der Wahrheit.

In Wirklichkeit besitzt der Hellenismos ein anderes und komplexeres Verständnis von Freiheit. Die Gründe hierfür liegen vor allem darin, dass es sich beim Hellenismos um eine kollektivistische Kultur handelt, das heißt: «die Gesellschaft hatte Vorrang vor dem Einzelnen», wie Herr Ebeling zu Recht bemerkt. Aus hellenischer Sicht erscheint der Individualismus «barbarisch» oder zumindest als Hybris, da er fast alles unter den Primat der Subjektivität, der Gefühle und individuellen Launen stellt, sogar die Pflichten des Menschen gegenüber dem Gemeinwesen. Nicht ohne Grund betrachtete der Psychiater und Psychoanalytiker Carl Gustav Jung den Individualismus als «eine Inflation des menschlichen Egos» (The Seminaries, Vol. 2, Part 1. Nietzsche’s Zarathustra: Notes of the Seminar Given in 1934-1939, London/New York, 2014, S. 348).

Die hellenische Freiheitsvorstellung dreht sich um die polis (den Staat), und es ist schlicht nicht möglich, diese Vorstellung von der Freiheit angemessen zu beurteilen, ohne die Relevanz der polis für die Griechen zu berücksichtigen. Die polis stellt nicht nur irgendeine Gemeinschaftsstruktur oder politische Einheit dar; sie ist vielmehr die Manifestation der darin lebenden Menschen. Ihre ganze Souveränität und Selbstversorgung, sogar ihre Würde hängt von ihrer polis ab. Es ist die polis, die die Bedingungen schafft, unter denen die Griechen ihre Beziehungen zueinander und zu ihren Göttern regeln. Es ist die polis, die Bürgerrechte, Forschung, Freiheit und das Recht auf Asyl garantiert. Generell waren die Griechen nur innerhalb der Grenzen ihrer jeweiligen polis frei. Nur aufgrund der polis waren sie überhaupt Bürger. Außerhalb davon waren sie sozial und politisch tot.

Der westliche Freiheitsbegriff war dem antiken Griechenland natürlich fremd, weil er damals noch nicht existierte. Dem Hellenismos bleibt er aber weiterhin fremd, da der Individualismus (der diesem Freiheitsbegriff zugrunde liegt) dazu neigt, die Menschen zu entpolitisieren, zu atomisieren und auf bloße «Individuen» zu reduzieren. Wir sehen dies heute in den westlichen Industriegesellschaften, wo der Konsum das Gemeinschaftsgefühl verdrängt, ja vielfach sogar ersetzt hat. Aber der Hellenismos ist durch und durch politisch. Und mit «politisch» meine ich Politik im eigentlichen Sinne des Wortes, nämlich als «Beschäftigung mit den Angelegenheiten der polis», was mit Parlamenten, Parteien, der sogenannten «Linken», der sogenannten «Rechten», der sogenannten «Mitte» und den unterschiedlichen Formen des politischen Monotheismus (Konservatismus, Liberalismus, Nationalismus, Internationalismus) natürlich wenig gemein hat.

Ein individualistischer Mensch mag dies vielleicht «steril» oder sogar bedrückend finden, aber aus hellenischer Sicht wirkt der Individualismus auch nicht besonders attraktiv, insbesondere weil er für die politische Natur des Menschen kein Verständnis hat. Darüber hinaus könnte der Individualismus unter bestimmten Umständen die polis und damit die Freiheit ihrer Bürger gefährden. Hat die Subjektivierung und Privatisierung den Sinn für das Gemeinwesen erst einmal ausgehöhlt, wird der Boden der Freiheit garantierenden Ordnung brüchig.

Also ja, die Griechen haben an die Freiheit geglaubt, um den Titel des Artikels von Richard M. Ebeling aufzugreifen. In gewisser Hinsicht tun sie das heute noch. Tatsächlich lautete das «Motto» des griechischen Befreiungskrieges in den 1820er Jahren «Eleftheria i thanatos» («Freiheit oder Tod»). Die Freiheit war für die Griechen seit jeher besonders wichtig. Deshalb reagieren wir sehr empfindlich, wenn es um unsere Souveränität oder Freiheit geht.

Aus westlicher oder «missionarischer» Sicht könnte dieses Verständnis von Freiheit als paradox aufgefasst werden, da Freiheit zunehmend als Ausdruck der wahren Wünsche und Begierden des Menschen interpretiert wird. Aber das scheint eher eine Frage des Ichs zu sein. Nun will ich aber gar nicht behaupten, dass der Individualismus «böse» sei und im Sinne des Kollektivismus «korrigiert» werden müsste. Im Gegenteil, ich denke, dass der Individualismus im Rahmen seiner eigenen Kultur legitim ist. Aber das Gleiche gilt für den Kollektivismus. Individualismus und Kollektivismus sind Ausflüsse von Weltanschauungen und Wertesystemen, weshalb sie ja auch nicht zu allen Orten und Zeiten gleich sind.

Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Vorstellungen und aufgrund ihrer Interessen, Werte und politischen Dispositionen auch unterschiedliche Strukturen des sozialen Miteinanders. Das ist keine schlechte Sache, eigentlich ist es sogar der natürliche Zustand der Ethnosphäre, dessen Grundlage auf «Andersheit» beruht. Andere Kulturen anhand der Standards und Normen der eigenen Kultur zu interpretieren oder zu beurteilen, ist viel zu einfach und führt nur zur Reproduktion kulturell bedingter Sichtweisen, die nur allzu oft unreflektiert bleiben. Wenn wir jedoch versuchen, den anderen in seiner Andersheit zu verstehen, können wir so viel mehr über uns selbst und die Welt um uns herum erfahren. Jenseits unserer Projektionen und kulturell bedingten Vorurteile gibt es eine ganze Welt zu entdecken.

Schlussendlich sind die Welten in unseren Köpfen nur kleine Punkte auf der Karte eines Universums, das viel größer ist, als wir es uns vorstellen können.