In Folge der COVID-19-Pandemie sind die menschlichen Gesellschaften weltweit in besonderer Weise auf die Gefahren aufmerksam geworden, die von jenen Narrativen und Überzeugungen ausgehen, die unter dem Begriff der Verschwörungsideologien zusammengefasst werden. Solche hat es natürlich bereits vor der Pandemie gegeben, jedoch spielten sie in der Öffentlichkeit nur eine marginale Rolle, wurden meist verlacht oder mit einem kurzen Kopfschütteln ad acta gelegt. Leider wurden weder die Narrative, die hauptsächlich im Internet verbreitet werden, ernst genommen, noch der Irrationalismus hinter diesen Erzählungen. Im Zuge der Pandemie, dem Herunterfahren des öffentlichen Lebens und den Debatten um die Wirksamkeit und Nebenwirkungen der Impfungen, platzten die Verschwörungsblasen auf und überfluteten den öffentlichen Raum mit verstörenden Spekulationen, Meldungen und Aktionen.
Plötzlich entstiegen die früher belächelten Verschwörungsideologien über das «globale Judentum», «die neue Weltordnung» und «den Krieg gegen die weiße Rasse» den Abgründen des Internets und fanden ihren Weg in den sogenannten Mainstream. Mittlerweile gibt es eine durchaus hohe Akzeptanz für Verschwörungsideologien, die sich jedoch nicht allein auf psychologische oder soziale Faktoren zurückführen lässt, sondern auf ein kulturelles Defizit verweist, das meines Erachtens als die eigentliche Ursache dieser Entwicklung zu betrachten ist.
Die verschiedenen sich widersprechenden Narrative vermischten sich mit rasanter Geschwindigkeit mit den Ideologien der sogenannten Moderne (Konservatismus, Liberalismus, Nationalismus, Internationalismus) und deren Ableitungen, verleiteten teilweise zu relevanten Straftaten, machten den Boden wieder fruchtbar für autoritäres Gedankengut und darüber hinaus die Menschen zur Beute ihrer eigenen Ängste. Noch dazu haben sie bestehende Fronten verhärtet und das Schubladendenken zu neuen «Höhen» verholfen, wodurch sie zu mehr Akzeptanz von Intoleranz beigetragen haben. Manchen Menschen, die diesen Narrativen Glauben schenkten und sich deshalb nicht in ärztliche Behandlung begeben haben, trotz schwerer Symptome, entweder weil sie überzeugt wurden, dass die Ärzte Teil einer globalen Verschwörung zur Reduzierung der Weltbevölkerung oder die Pfleger Schauspieler seien, haben diese Geschichten das Leben gekostet.
Die staatszersetzende Wirkung von Korruption, Vetternwirtschaft und Gleichgültigkeit hat die Verunsicherung der Menschen verstärkt und massiv zu einer unversöhnlichen Polarisierung beigetragen, die Freundschaften beschädigt und sogar in den Familien Spuren hinterlassen hat. Eine bereits brutalisierte Gesellschaft erlebt die Vergiftung der ohnehin unsachlichen Debattenkultur. Aus den Konflikten hat sich ein neuer Dualismus herauskristallisiert. Vorsichtsmaßnahmen wurden zur Einleitung in die Diktatur, Bedenken wegen nicht erforschter Langzeit-Nebenwirkungen von Impfungen zur Idiotie erklärt. So neuartig dieser Dualismus auch sein mag, fußt er auf bereits bestehenden Denkschemata, die sowohl die Politik wie auch die Medien beherrschen. Es ist ein Irrationalismus, der den Primat der Gefühle über den Verstand verkündet, wodurch jede Debatte zu einem emotionalen Akt ausarten kann. Mit der Pandemie wurde der Irrationalismus sichtbar. Gegeben hat es ihn aber schon vorher.
Ein irrationales System
Wir leben in einem irrationalen und religiösen System, wähnen uns aber in einem rationalen Säkularismus angekommen, der so nie existiert hat. Der Habitus, der im Abendland für die Religion charakteristisch war, wurde lediglich auf die politische Ebene übertragen, die ihrerseits von den diversen Varianten des politischen Monotheismus (Konservatismus, Liberalismus, Nationalismus, Internationalismus) dominiert wird, der von der «göttlichen Ordnung» des Konservatismus bis zur marxistischen «Eschatologie» von einer eigensinnigen Soteriologie durchdrungen ist. Die Religion, in diesem Fall das Christentum, fungiert als Archetyp für eine Politik, die diesen Namen eigentlich nicht verdient, weil es oft nicht um die «öffentlichen Angelegenheiten» geht, sondern um Parteien, Zeremonien, die Bildung von Netzwerken und die Bedienung von Partikularinteressen. Die Parteien haben ihre heiligen Schriften, Dogmen, Rituale und eigene «Götter». Bei den einen ist das der «Markt», bei den anderen das «Klima». Die Verfassung wird in einen quasi-sakralen Rang erhoben, beinah als Gotteswerk und nicht etwa als das Ergebnis menschlicher Bestrebungen betrachtet. Die Wähler wählen oft die Politiker, die ihnen sympathisch sind oder die es mit Worten, Gestik und Mimik schaffen, ihr jeweiliges Weltbild zu bestätigen. Andere wiederum folgen den mehr oder weniger subtilen Empfehlungen der Journalisten. Das ist sogar für parlamentarische Verhältnisse äußerst bedenklich. Eigentlich leben wir nicht in einer repräsentativen Demokratie, wie der Parlamentarismus gern bezeichnet wird, sondern in einer Irratiokratie, in der selbst scheinbar rationale Gedanken letztlich für die Entscheidung sprechen, die auf emotionaler Ebene bereits getroffen wurde. Unsere gesamte Staatsform und Wirtschaftsweise ist irrational, weil sie a) auf irrationalen Dogmen beruht und b) materielle Werte in einer Art und Weise produziert, die der Menschheit ihre Lebensgrundlage entzieht.
Der Irrationalismus wird quasi mit der Muttermilch aufgenommen. Als Glieder eben dieser Gesellschaft haben wir uns längst daran gewöhnt, dass Wahlplakate nichts sagen und Werbungen nicht die Nützlichkeit eines Produktes in den Vordergrund stellen, sondern Suggestionen erzeugen, die in keinem rationalen Verhältnis zum Produkt stehen. Diese Entwicklung ist menschengemacht, wird aber als natürlich hingenommen, obwohl sie den vernunftbegabten Anteil unserer Psyche verspottet und nicht selten zu Handlungen verleitet, die unserer Gesundheit abträglich sind. Selbstverständlich hat der irrationale Anteil der menschlichen Psyche ebenso seine Existenzberechtigung wie der rationale Anteil. Das Irrationale im Menschen wird nur dann zum Problem, wenn es Förderung erfährt, während die Vernunft «domestiziert», in Kanäle gelenkt wird, die den Menschen als ein vernunftbegabtes Wesen entwürdigen, bloßstellen und zu einer Karikatur seiner selbst deformieren. Das eigentliche Problem sind aber nicht die Werbungen, Wahlplakate oder Versprechen politischer und ökonomischer Systeme («Selbstverantwortung», «stetiges Wachstum»). Das Problem ist die Abwesenheit von Bildung und Erziehung. Der eine oder andere Leser mag sich nun wundern, worauf ich hinauswill. Er wird mich darauf hinweisen, dass es unzählige Schulen und Universitäten im Land gibt, Lehrer und Professoren, die die Kinder und Jugendlichen anleiten und unterrichten. Ja, das alles gibt es. Wir haben tatsächlich ein Schulsystem, aber eben kein Bildungssystem.
In den Schulen werden uns alle Informationen vermittelt, die wir im späteren Leben als Steuerzahler brauchen werden. Das gesamte Ausbildungssystem richtet sich nach den Bedürfnissen der Wirtschaft, geht auf neue Trends, führt neue Ausbildungsgänge ein. Wir werden zu guten Fachkräften erzogen, aber nicht zu guten Menschen. Zu loyalen Untertanen, nicht zu Bürgern. Wir werden auf den Arbeitsmarkt vorbereitet, nicht auf das Leben. Wir lernen Bewerbungen zu schreiben, nicht für uns selbst oder andere da zu sein. Lernen den Satz des Pythagoras, aber nicht die Ethik des Pythagoras. Die Philosophie wurde an die Universitäten verbannt, wo sie als intellektuelles Gedankenspiel ihr Dasein fristet. Noch dazu ist der Zugang zur philosophischen Ausbildung an Bedingungen (Abitur) geknüpft, die erkennen lassen, dass der Sinn der Philosophie vollkommen verkannt wird, denn Philosophie ist in erster Linie Praxis, dient dem Denken und Verstehen, nicht dem Obskuren. Spiel, Kreativität und Ästhetik werden aus den Erziehungsanstalten verbannt, die Kinder in eine ganz bestimmte Richtung geführt, zu gehorsamen Wählern und damit zu Untertanen geformt, nicht zur Vernunft, schon gar nicht zur Tugend erzogen. So erreichen viele Menschen das 18. Lebensjahr, ohne in der Lage zu sein, sich intellektuell wehren zu können. Die überall zu beobachtende Entfremdung ist eine logische Folge dieser Entwicklung.
Abschied von Illusionen
Verschwörungstheorien kommen dem Wunsch nach Gewissheit entgegen, füllen Lücken, die Politik und Wissenschaft aktuell nicht schließen können, wodurch sie der Unsicherheit entgegen wirken. Wenn es etwas gibt, das der heutige Mensch nicht ausstehen kann, dann ist das die Unsicherheit. Verschwörungsnarrative, wie auch Ideologien, reduzieren die Weite der Welt auf die Größe einer Zigarettenpackung, helfen dabei, neue und vor allem bedrohliche Entwicklungen in bekannte oder zumindest klar umrissene Kategorien zu denken. Dadurch bildet sich eine Ordnung heraus, die Unbekanntes in Bekanntes übersetzt und dadurch den Menschen einen gewissen Trost spendet. Leider macht uns diese Illusion von Sicherheit und Ordnung anfällig für irrationale Gedanken, die der Idee eines wohlgeordneten Gemeinwesens konträr entgegenstehen, weil dieses auf die ordnende Urteilskraft der Vernunft angewiesen ist. Auf den Flügeln von Massenbewegungen sind irrationale Gedanken in der Lage, ganze Gesellschaften in die Irre zu führen und Staaten aus den Angeln zu reißen.
Der beste Schutz gegen alle Verlockungen und Fallen der Verschwörungsnarrative, Ideologien und Parteien ist ein geschärfter Verstand und Selbstachtung. Der Weg dazu führt über Erziehung und Bildung. Ein Bildungssystem könnte jungen Menschen durchaus helfen, mit ihrer Unsicherheit, den Wissenslücken, Unzulänglichkeiten und Grenzen ihrer sterblichen Natur zu leben. Ebenso wichtig wäre es, die Kreativität der jungen Leute zu fördern und ihnen beizubringen, achtsam mit ihrem Verstand umzugehen. Die Heranführung an die Vielgestaltigkeit der Welt, die Fülle der Biosphäre und Anzahl menschlicher Pfade hingegen könnte zu einer gewissen Immunität führen gegen ein eindimensional-simplifizierendes Schwarz-Weiß-Denken, welches zu oft humanistische Imperative einem bigotten Moralismus zum Fraß vorwirft. Wie besser würden wir leben, wenn die Unsicherheit uns nicht diktieren könnte, Wissenslücken mit phantastischen Geschichten zu füllen, wenn wir lernten, uns zu enthalten und nicht zu allen Dingen eine Meinung haben zu müssen.
Die Bemächtigung des Menschen steht und fällt mit seiner Vernunftfähigkeit. Sie ist ein Juwel, das auf Händen getragen werden müsste. Und doch erleben wir das Gegenteil, werden unter Druck gesetzt, uns «gut zu verkaufen» und an «den Mann zu bringen». Die Selbstachtung ist ein zartes Pflänzchen, muss gepflegt und nicht etwa mit Säure übergossen werden. Aus dieser Perspektive betrachtet sind die Schulen nicht nur eine Verschwendung wertvoller Lebenszeit, sondern darüber hinaus eine Anleitung zur Selbstverletzung. Ein einseitiges Schulsystem, das mit Noten belohnt, die nichts über die wahren Fähigkeiten eines Menschen aussagen, und nicht auf das Leben nach der Schule vorbereitet, begrenzt nicht nur unser Potential, sondern sendet fatale Signale, die eines Menschen nicht würdig sind. Aufgrund ihrer minderen Qualität ist die Schulausbildung nicht einmal imstande, die nötigen Voraussetzungen für den erfolgreichen Eintritt in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Wenn junge Menschen von der Schule gehen, ohne richtig lesen und schreiben gelernt zu haben, ist die Reproduktion soziopolitischer Verwerfungen vorprogrammiert.
Den Menschen vom Kopf auf die Füße stellen
Die Verrohung der Sprache, die medienwirksam beklagt wird, ist das Spiegelbild einer Verrohung der menschlichen Beziehungen. Der Mensch lässt sich unter demütigenden Bedingungen zur Grausamkeit erziehen und setzt immer häufiger seinen Ellbogen ein, im Glauben, nur so überleben zu können. Aber im Grunde verliert er auf diese Weise das «Spiel», weil er sich assimilieren lässt. Sprüche wie «Jeder ist seines Glückes Schmied» oder «Jeder ist für sein Leben selber verantwortlich» vertiefen die Atomisierung des heutigen Menschen, forcieren seine Verlassenheit. Sie blenden die Verantwortung des Staates, die Dysfunktionalität des Schulsystems und die Re-Feudalisierung aus, die sich in der Vererbung von Reichtum und Armut manifestiert, sehen nur noch den einzelnen Menschen, abgelöst von allen Bindungen und Beziehungen zu seiner Umwelt, und sind blind für den Menschen als Menschen. Parteien, Medien und Unternehmen blasen ins gleiche Horn, haben diese Sprüche gewissermaßen neu geprägt, schließlich steht die kollektive Imagination, die solche Einstellungen hervorbringt, nicht im luftleeren Raum. Aber das eigentliche Problem, die Wurzel der Entwürdigung ist die Abwesenheit von Bildung. Das unterfinanzierte Schulsystem ist lediglich der Lückenbüßer. Aber Bildung ist nur deshalb abwesend, weil ihre Anwesenheit unerwünscht ist. Auf diese Weise bleibt der oben erwähnte rationale Säkularismus ein Traum, der die Wirklichkeit kontrastiert oder eher kompensiert.
Viele unserer Mitmenschen gehen auf die Straße, fühlen sich von ihren Sorgen überrannt, lassen sich von ihren Emotionen mitreißen, von zweifelhaften Reden aufstacheln, vom Hass blenden und brutalisieren. Manche davon sehen sich als Anwälte einer Demokratie, andere verstehen sich als Gegner einer heraufziehenden Diktatur. Und nicht wenige haben sich ganz vom öffentlichen Leben und dem Staat abgewandt. So unterschiedlich ihre Biografien und Motive auch sein mögen – sehr viele dieser Menschen haben eines gemeinsam: ihnen wird täglich Gewalt angetan. Die Erfahrung von Demütigung, Armut und Verachtung schürt ihren Zorn, und dieser Zorn beflügelt den Hass. Die Erfahrung der Gewalt scheint mir in der Kindheit und frühen Jugend vorweggenommen, als die imaginative Kraft der Jugendlichen korrumpiert worden ist mit dem Ergebnis, dass es heute relativ einfach ist, ihren Verstand gegen sie selbst zu richten. Wir funktionieren genauso, wie wir programmiert wurden. Da die Gedanken in unseren Köpfen nicht unsere eigenen sind, scheint der Ausbruch aus den subtil vorgegebenen Lebensmustern unwahrscheinlich. Doch obwohl viele Menschen diese Erfahrung der Gewalt und die damit einhergehende Entfremdung kognitiv nicht erfassen, fühlen sie, dass «etwas nicht stimmt».
Viele Proteste, die im letzten Jahr an uns vorbeigegangen sind, standen unverkennbar unter dem Zeichen der Inhumanität und des Irrationalismus. Aber die Verhärtung der Seele ist kein Widerstand gegen Ausbeutung und Korruption, sondern der direkte Weg in die Assimilation. Der Widerstand gegen die Parteien, die allgemeine Barbarisierung und staatlich organisierte Menschenverachtung kann nicht durch Mittel erfolgen, die den menschlichen Verstand in den Dreck treten. Echten Widerstand gegen Entwürdigung und Verachtung bringt nur der Humanismus. Damit meine ich nicht die literarisch-philologische Ausbildung, wie wir sie aus den «humanistischen Gymnasien» kennen, sondern vielmehr die humanitas* der Römer und die philanthropia** der Hellenen, d.h. eine von Milde getragene, zivilisierte Lebenshaltung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt rückt. Der Humanismus schafft nicht nur ein Problem aus der Welt, sondern bietet eine Alternative an, welche der Würde des Menschen Rechnung trägt. Dem einzelnen Menschen bietet er einen effektiven Schutz gegen die Assimilierung in der Barbarei, aber als Institution in der Form eines Bildungssystems würde es allen zukünftigen Generationen eine Anleitung zum Menschsein in die Hand drücken, um ihnen ein Leben in Übereinstimmung mit ihrer vernunftbegabten Natur zu ermöglichen. Genau hier liegt der Grund für den Unwillen zum Humanismus begraben; dass humanistisch gebildete Menschen sich mit den vorherrschenden Zuständen abfinden würden, ist eher unwahrscheinlich.
Bildung wird keinesfalls den «perfekten» und schon gar nicht einen «neuen» Menschen hervorbringen. Die Erziehung zur Vernunft wird nicht alle Verirrungen des menschlichen Verstandes tilgen, vielmehr wird sie vor Fehlern warnen und zur Mäßigung mahnen. Sie wird also nicht ein fehlerfreies Wesen schaffen, aber Institutionen, die in eine gesunde Richtung führen, und Menschen, die sich von diesen vertrauensvoll leiten lassen können, weil es ihre eigenen Institutionen sind. Ein Bildungssystem könnte durchaus die Grundlage für die Schaffung entsprechender Strukturen legen. Nicht nur das. Eines fernen Tages könnte diese Institution den Untertan zum Bürger aufrichten, von der Oligarchie zur Demokratie führen. Denn Bildung öffnet Augen und Ohren für das Potential, das in der Tiefe schlummert.
* Menschsein, Menschlichkeit, Menschennatur
** Liebe zum Menschlichen