Religion, Riten und Begriffe

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Vielen Menschen, die des Griechischen mächtig sind, ist vielleicht aufgefallen, dass die Hellenen nicht von «Ritus» reden, wenn es um Religion geht, obwohl die korrekte Ausführung der Opfer den eigentlichen Kern unserer anzestralen Kulte darstellt. Der Grund dafür ist einfach: wir haben kein Wort für «Ritus».
«Teleté», das Wort, welches im Neugriechischen verwendet wird, bedeutet schlicht «etwas erreichen, vervollständigen, beenden»; es wird gebraucht, um die Kommunikation mit der nicht-hellenischen Welt zu erleichtern.
Orthopraxie oder Orthopraxía hingegen ist lediglich die Verbalisierung des Prinzips der richtigen Praxis. Aber es wird noch schwieriger. Viele von uns gebrauchen nicht einmal den Begriff «threskeia» (Religion), wenn wir intern miteinander kommunizieren. Ganz zu schweigen von «Glauben», ein Wort, welches wir gar nicht verwenden, weil der Hellenismos nichts mit «Glauben» zu tun hat.[1]
Welche Begriffe verwenden wir also dann?

Wir haben zwei Grundbegriffe für die anzestralen Kulte, die beide schwer korrekt zu übersetzen sind: «ta patria» (Plur. Sitten, Überlieferungen der Vorfahren; das Überlieferte) und «ta nomizomena» (Plur. gebräuchlichen Praktiken, Konventionen, Vorstellungen, Normen, die bei der Verehrung der Götter, Daimonen und Heroen eingehalten werden).
Daneben gibt es noch drei weitere Begriffe: «eusebeia» (Lat. pietas, Frömmigkeit), das griechische Wort für «Religion» schlechthin, «latreia» (Kult, Anbetung) und «ta eiothota» (Plur. Konventionen, Bräuche, Sitten, was üblich getan oder ausgeführt wird, d.h. die Opfer), was nur selten Gebrauch findet.
«Es gibt kein altgriechisches Wort für Ritual; die ähnlichsten Entsprechungen sind vielleicht ta nomizomena (die gewöhnten Dinge) und ta patria (die anzestralen Bräuche). Zu den grundlegenden Bestandteilen der griechischen Ritualpraxis zählen die verschiedenen Opferungen, Trankopfer und das Darbringen von Gaben an die Götter; Reinigungen, Prozessionen, Tänze und Wettbewerbe im Rahmen von Feierlichkeiten; Hymnen, Gebete und Orakel.»[2]
«Ta patria» ist der mit Abstand gebräuchlichste und beliebteste Begriff von allen.

Es ist vielleicht auch interessant zu erwähnen, dass «ta patria» das Konzept der Orthopraxie beinhaltet. Die korrekte Praxis ist nicht in Steintafeln eingraviert oder in heiligen Schriften festgehalten, sondern wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die korrekte Praxis ist die Praxis «kata ta patria» (gemäß den anzestralen Sitten oder der Tradition, wie wir heute sagen würden).
Die Götter zu ehren bedeutet, «ta patria» zu praktizieren.[3]
Aber «ta patria» sind nicht für alle Hellenen gleich; sie hängen davon ab, welchem Stamm oder Klan einer angehört.
Darum unterscheiden sich «ta patria» der Athener von «ta patria» der Spartaner, so dass es Kulte gibt, die nur von bestimmten Stämmen, Klans oder Familien gepflegt werden. «Griechische Religion» ist die Summe all dieser Kulte, die Summe der religiösen Praktiken und Vorstellungen der Hellenen.

In der Antike waren nur wenige Kulte allen Staaten oder Hellenen gemein. Was die Religionshistoriker der Gegenwart über die römische Religion schreiben, gilt in gewisser Hinsicht auch für den Hellenismos:
«Die römische Welt besaß weder eine römische Religion noch eine zentrale religiöse Autorität, sondern eine Vielzahl von Autoritäten, Regeln und Vorstellungen, die ein globales Ganzes bildeten, das jedoch nicht ein und derselben Autorität unterstand.»[4]

Was das angeht, bildet die römische und hellenische Religion keine Ausnahme. Alle oder fast alle ethnischen Religionen sind zunächst lokal oder örtlich und erst dann ethnisch (= alle Mitglieder einer Ethnie betreffend) gebunden, alle oder fast alle davon sind inhomogen, weil die Ethnien selbst inhomogen sind, denn sie bestehen aus vielen Stämmen, Sippen, Familien und anderen kulturellen oder linguistischen Untergruppen (wie z.B. die hellenischen Phratrien).

Ich bin Menschen begegnet, die aus genau diesem Grund, d.h. ihrer natürlichen Diversität, die ethnischen Religionen nicht als «echte Religionen» anerkennen. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass die Diversität der ethnischen Religionen nicht das Ergebnis persönlicher Vorlieben oder von Willkür ist, sondern historisch gewachsener Strukturen. Manche Leute neigen dazu, den Polytheismus, wie ethnische Religionen auch genannt werden, mit Willkür oder «Wasauchimmerismus» in Verbindung zu bringen.
Nichts könnte weniger der Wahrheit entsprechen.

Tradition hat im Hellenismos einen ganz anderen Stellenwert, eine andere Bedeutung, ist verbunden mit unserem Wesen, unserer Geschichte und Sprache, Sitten und politischen Institutionen, mit der Art und Weise in der wir leben und sterben. Was der Westen «Tradition», «Religion», «Kultur» und «Identität» nennt, ist hier zu einer Einheit zusammengeschlossen («Ethos»).
Wir ändern die Tradition nicht aus einer Laune heraus, genauso wenig wie wir uns nicht ohne triftigen Grund die Hand abhacken würden. Alles andere wäre gefährlich überheblich und vorsätzlicher Unsinn.[5] Sogar Epikuros, der Philosoph, der lehrte, dass die Götter den Menschen weder belohnen noch bestrafen, opferte ihnen, um unter anderem die Tradition zu wahren.[6]
In den ethnischen Religionen, insbesondere im Hellenismos, besitzt alles eine konkrete symbolische oder materielle Bedeutung, alles ist mit allem untrennbar verbunden; Außenstehende können dies womöglich gar nicht erkennen oder verstehen. Die Angehörigen der jeweiligen Traditionen dagegen sind sich der Bedeutung der Symbole, Gesten und Worte bewusst. Sie sprechen zu ihrer Psyche. (Wir alle kennen das. Wir sehen etwas und wissen sofort, was es bedeutet oder was wir tun müssen, ohne dass es einer Erklärung bedarf. Es ist die Innenperspektive.)
Aber ich bin sogar auf einen Artikel gestoßen, in dem behauptet wird, dass der Hellenismos keine ethischen Prinzipien oder religiösen Regeln kennt. Ein flüchtiger Blick auf unsere religiösen Kalender lässt anderes vermuten. Orthopraxie bedeutet nicht, dass alles andere unbedeutend oder irrelevant wäre.

Auf der anderen Seite weigern sich manche Leute, die ethnischen Religionen als «Religionen» anzuerkennen, weil ihnen der «Glaube» fehlt; sie wissen offenbar nicht, dass wir es hier mit einer anderen Art von Religion zu tun haben. Glaubensbasierte Religionen sind nur ein Aspekt des Phänomens, das uns heute als «Religion» bekannt ist. Beide Arten von Religionen, die ethnischen und die glaubensbasierten, haben viele Gemeinsamkeiten, nur haben sie ein anderes Verständnis von diesen Gemeinsamkeiten.
So sind beispielsweise Gebete und Opfer im Hellenismos keine mystischen oder spirituellen Erfahrungen, sondern materielle Handlungen. Im Christentum ist das Gebet Ausdruck einer persönlichen Hingabe oder des «Glaubens».
«Echte Religionen», und damit meinen sie das Judentum, Christentum und den Islam, sind übrigens auch nicht homogen. Vielleicht wären sie das, wenn sie alle nach Vorschrift glauben oder praktizieren würden. Das kann ich nicht sagen. Tatsache ist jedoch, dass sie dies nicht tun; sie sind homogen(er) nur im Vergleich zu den ethnischen Religionen, deren Inhomogenität die Polymorphie der Ethnosphäre reflektiert wie die Ethnosphäre selbst die Polymorphie der Biosphäre widerspiegelt.
So gesehen ist die Inhomogenität und historisch gewachsene Diversität der ethnischen Religionen par excellence natürlich.

[1] «Pistis», das Wort, das griechischsprachige Christen im Sinne von «Glauben» verwenden, bedeutete ursprünglich «Treue» oder «Vertrauen». Im Hellenismos wird der Begriff immer noch in diesem Sinne gebraucht, denn Vertrauen ist eine der vier Komponenten, die unsere Beziehungen zu den Göttern regeln (Porph., Brief an Marcella, 24).
[2] Jennifer Larson: Ancient Greek Cults: A Guide, New York: Routledge, 2007, S. 5.
[3] Frömmigkeit bedeutet, «die Gottheit gemäß den Sitten seiner Heimat zu verehren» (Porph., Brief an Marcella, 16-19, 23).
[4] John Scheid, in: Gnomon 2003, S. 708.
[5] «Gegenüber den Göttern handelte und sprach er bekanntermaßen gerade im Sinne dessen, wie die Pythia denen antwortet, die nach dem angemessenen Verhalten beim Opfer, bei der Verehrung der Vorfahren und bei ähnlichen anderen Anlässen fragen. Die Pythia tut nämlich kund, wer nach dem Gesetz des Staates handelt, der handelt fromm, und Sokrates tat genau dies und empfahl es auch den anderen. Wer aber anders handelte, den hielt er für unüberlegt und töricht» (Xenophon, Memorabilia, 1.3.1).
[6] Papyrus Oxyrhynchus I, 215.