Yorgos N. Oikonomou: «Το χάσμα μεταξύ Αρχαιοελληνικού Πολιτισμού και Βυζαντινού Χριστιανισμού», in: oikonomouyorgos.blogspot (Januar 2009), zuletzt abgerufen am 21.04.2020. Der Artikel wurde am 23.12.2008 in der griechischen Zeitung «O Filathlos» gedruckt. Aus dem Griechischen von Stilian Korovilas.
Ein Mythos der neugriechischen Ideologie ist die berüchtigte Kontinuität der antiken griechischen Kultur und des byzantinischen Christentums. Es gab jedoch keine solche Kontinuität, im Gegenteil, denn zwischen den beiden Welten gab es eine Kluft, einen Bruch, einen Riss, der das Ergebnis von zwei früheren historischen, kulturellen und politischen Veränderungen war. Der erste historische Bruch war die Niederlage der athenischen Demokratie durch die makedonische Phalanx Philips und Alexanders bei Chaironeia im Jahr 338 v.Chr. und die endgültige makedonische Herrschaft im Jahr 322 v.Chr. Nach dieser Niederlage und dem Ende der demokratischen Kultur, nach dem Verlust der Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Beteiligung der Gemeinde an der Entscheidungsfindung und der Macht, entarten die griechischen Poleis zu unfreien oligarchischen oder monarchischen Regimen. Auf diese Weise endet das einzigartige Phänomen der Polis, das in allen Bereichen Erstaunliches hervorgebracht hat: Politik, Rhetorik, Recht, Philosophie, politisches Denken, Tragödie, Komödie, Bildhauerei… Aber selbst in der hellenistischen Zeit brachten die Griechen in den Zentren des Reiches Kultur hervor (Philosophie, Kunst, Mathematik, Naturwissenschaften).
Der zweite Bruch vollzog sich mit der Versklavung durch die Römer ab dem 2. Jahrhundert v.Chr. Doch auch in diesem Fall respektierten die Eroberer nicht nur die Kultur, die sie vorfanden, sondern erkannten auch ihren Wert und ihre Überlegenheit, machten sie zu ihrer eigenen Kultur, förderten die Philosophie, die Künste, besuchten die griechischen Schulen und zivilisierten sich selbst an der griechischen Kultur, wie sie selber zugaben. Die Griechen behielten ihre Götter und ihre Sprache, die auch von den gebildeten römischen Schichten gesprochen wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass der römische Kaiser Marcus Aurelius sein philosophisches Werk «Selbstbetrachtungen» auf griechisch schrieb.
Der dritte und wichtigste Bruch vollzog sich mit der Vorherrschaft des Christentums in der westlichen und östlichen Hälfte des römischen Reiches, in Konstantinopel. Was das byzantinische Christentum auszeichnet, ist die Rivalität und Feindseligkeit gegen die antike griechische Kultur in allen ihren Aspekten, wie wir bereits an anderer Stelle erwähnt haben.[1] Dieser Kontinuitätsmythos ist bloße Ideologie, die nachträglich von den neugriechischen Christen und Nationalisten geschaffen wurde, um die historische Wahrheit zu verbergen und die negative und untergrabende Rolle der Kirche während der Revolution von 1821 in schönen Farben zu malen. Das Ergebnis war die berüchtigte Monstrosität der «hellenochristlichen Zivilisation» der Metaxas-Diktatur und der Slogan «Hellas der griechischen Christen» der Papadopoulos-Diktatur. Die älteren Intellektuellen K. Tsatsos, P. Kanellopoulos, I. Theodorakopoulos, E. Papanoutsos, aber auch die jüngeren byzantinischen Theologen Ch. Giannaras und S. Ramfos haben mit ihren philosophisch eingefärbten Ideologemen zur Konservierung dieses Mythos beigetragen. Sie alle verschleiern zudem die Tatsache, dass Byzanz das östliche Mittelalter war. Im Gegensatz dazu waren die byzantinischen Christen selbst ehrlich und in ihren Äußerungen klar und kühn: die antike griechische Bildung (paideia) ist keine Fortsetzung ihrer eigenen, sondern etwas ihnen Fremdes, etwas, das von außen kommt (exothen he thyrathen). Jedoch waren sie gezwungen, sich einerseits damit auseinanderzusetzen, weil es die einzige Bildung war, die es gab, und sie dadurch das Schreiben lernten, und andererseits um sie als Werkzeug, als Dienerin der Theologie zu nutzen, jedoch ohne die wesentlichen Ideen der Gleichheit, Freiheit, Anzweiflung, politischen Gerechtigkeit, philosophischen Hinterfragung, politischen Partizipation und Demokratie.[2]
Das Beunruhigende an der neuen Bewegung der neo-orthodoxen Nationalisten ist, dass sie ihre religiösen Überzeugungen vermarkten und ideologisieren, auf alle möglichen Arten für sie Werbung machen und als die einzig richtigen, die einzige Wahrheit betrachten. Und das Gefährliche ist, dass sie diese Überzeugungen politisieren und sogar als ein politisch-soteriologisches Angebot präsentieren, wodurch sie den Dogmatismus, Fanatismus und die Intoleranz befördern. Das ist von Zeit zu Zeit, und zuletzt anlässlich des inzwischen berühmten Schulbuches für das Fach Geschichte für die 6. Klasse der Volksschule, auf allen christlich-nationalistischen Veranstaltungen zu beobachten, bei denen der byzanzverehrende Theologe Ch. Giannaras, der Mann der Diktatur und Verleumder Christodoulos-Paraskevaides und die gesamte nationalreligiöse Lobby eine führende Rolle spielen.
Das Land bedarf der Objektivität, Nüchternheit, des vernünftigen Austausches und Dialogs, heißt der Tugenden der altgriechischen demokratischen Kultur. Es braucht keine dogmatischen Predigten des Hasses, der Panikmache, Beleidigungen und Lügenworte, d.h. das byzantinische Christentum. Letzteres trägt eine große Verantwortung für den heutigen Zustand der neugriechischen nationalen und staatlichen Konstruktion, die historisch betrachtet eigentlich tot ist, wie die Denker C. Castoriadis und P. Kondylis betont haben.
[1] siehe Y. N. Oikonomou, «Το χριστιανικό βυζάντιο κατά των Ελλήνων» [«Das christliche Byzanz gegen die Griechen»], Zeitung Eleftherotypia, 4. April 2007, S. 46 und «Ο μύθος του ελληνοχριστιανικού πολιτισμού» [«Der Mythos der hellenochristlichen Zivilisation»], Zeitung Avgi, 15 April 2007.
[2] Weitere Informationen zu den Unterschieden zwischen dem christlich-byzantinischen Mittelalter und der altgriechischen Kultur sowie über die absurden Folgen der Ideologie der «hellenochristlichen Verbindung», siehe den kurzen, großartigen Aufsatz von C. Castoriadis: «Οι μύθοι της παράδοσής μας» [«Die Mythen unserer Tradition»], Zeitung Kyriakatiki Eleftherotypia, 21. August 1994.
Zur Person: Yorgos N. Oikonomou (geb. 1950) ist ein griechischer Autor, Übersetzer, Kolumnist und Philosoph. Oikonomou studierte Mathematik, Musik und Philosophie an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen und beteiligte sich aktiv am antidiktatorischen Kampf gegen das Obristenregime in Griechenland. In Paris besuchte er die Postgraduierten-Seminare von Cornelius Castoriadis, Alain Touraine, Jacques Bouveresse, Pierre Bourdieu, Pierre Vidal-Naquet und Jacques Derrida. Er hat einen Master in Philosophie von der Sorbonne Universität und promovierte zum Doktor der Philosophie an der Universität von Kreta. Er ist der Autor von 7 und Co-Autor von 10 Publikationen. Des Weiteren übersetzte er Werke von Quintus Tullius Cicero, Marcus Tullius Cicero und Frederick S. Hillier ins Griechische. Seine Artikel und Kommentare zu aktuellen politischen Themen wurden in mehreren großen griechischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Im Zentrum seiner Arbeit stehen die Theorien von Cornelius Castoriadis und das konfliktäre Verhältnis zwischen Demokratie und Parlamentarismus. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Von der Krise des Parlamentarismus zur Demokratie (Verlag Papazisis, Athen 2009) und Direkte Demokratie: Prinzipien, Argumente, Möglichkeiten (Verlag Papazisis, Athen 2014).