Die Göttin Hekate

Vlassis G. Rassias: Η ΘΕΑ ΕΚΑΤΗ, in: Rassias (Artikel, News, Veranstaltungen), zuletzt abgerufen am 14. April 2020. Aus dem Griechischen von Stilian Korovilas.

Hekate hellenismos

Mondgöttin des geheimen Wissens, der Übergänge und Veränderungen, die Macht über den Himmel, die Erde, das Meer, aber auch über das Jenseits hat. Sie ist die Spenderin von Reichtum, Ehrungen, Siegen, Seetüchtigkeit, die Beschützerin der Neugeborenen, Wegweiserin der Menschen als Herrin der Wege, Gabelungen, Kreuzungen und Eingänge (alle vier symbolisieren die Pfade und Optionen des menschlichen Lebens), Helferin bei jeder Gesetzgebung und Vorsteherin aller Reinigungsriten.

Den verschiedenen Versionen des Mythos zufolge wurde Hekate von folgenden Wesen «geboren»:

1. der Göttin Nyx (Bakchylides, Fragm. 1B, «Εκάτα δαϊδοφόρε, Νυκτός μεγαλοκόλπου θύγατερ», «Hekate, fackeltragende, der großbusigen Nacht Tochter»)
2. vom Titanen Perses und der Titanin Asteria (Theogonie Hesiods, 404, homerische Hymne an Demeter, Pseudo-Apollodor, 1.8., Lykophron, 1174 u.a.), daher ihr Beiname «Perseis», obwohl in einer anderen Version Zeus der wahre Vater ist
3. vom Gott Zeus und der Asteria (nach Musaios, laut dem Kommentator des Apollonios Rhodios)
4. vom Aristaios (nach Pherekydes, laut dem Kommentator des Apollonios Rhodios)
5. der Göttin Demeter (nach dem Kommentator des Apollonios Rhodios, 3.467)
6. der Leto (nach Euripides)
7. vom Gott Zeus und der Aiolos-Tochter Pheraia (die sie laut dem Kommentator des Theokrit an einer Wegkreuzung aussetzte), daher ihr Beiname «Pheraia»
8. vom Gott Zeus und der Göttin Demeter (ihre Mutter schickte sie sogar los, um ihre Schwester Persephone zu finden)
9. vom Gott Zeus und der Göttin Hera
10. vom Titan Koios und der Titanin Phoebe, demnach sind Asteria und Leto ihre «Schwestern»
11. vom Tartaros

Die im Mythos bezeugte Herrschaft der «Persestochter» und Göttin über den Himmel, die Erde und das Meer, wird bereits seit der Zeit der Titanen ausgeübt, noch vor der Titanomachie, durch die die siegreichen Götter die Regentschaft über den Kosmos erlangten. In Wirklichkeit ehrte Zeus seine «Tochter» bloß dafür, dass sie an der Seite der Götter am Konflikt teilnahm, indem er ihre bereits zuvor bestehende Herrschaft bestätigte. Sie wiederum half den Olympiern in der «Gigantomachie» (wo sie Klytios tötete), in der sie Seite an Seite mit ihrer «Mutter» Nyx kämpfte.

Etymologie des Namens

Der Name der Göttin ist aus dem Adverb «hekas» («weit entfernt») abgeleitet, aus dem auch «hekathen» («aus großer Entfernung») abgeleitet ist. Im Lexikon von Liddell & Scott wird sie als die aus der Ferne kommende (makran exiknoumeni) definiert (von «exiknoumai», d.h. ankommen, erreichen, als Grenze haben).

Die Ableitung von «hekateros» ist ebenfalls eine mögliche Etymologie (bed. jeder von beiden, aber nicht gemeinsam, sondern getrennt, das Gegenteil also von «αμφότεροι, beide»). In diesem Fall wird die doppelte Verbindung der Göttin mit der Welt der Lebenden und der Welt der Toten betont.

Das Wesen der Göttin

Die Dichte der theophoren Namen, die sich auf Hekate beziehen und die wir im kleinasiatischen Karien beobachten (Hekataios, also der Hekate, Hekatomnos u.a.), zeigt einen Wesenszug der Göttin auf, der in keiner Beziehung steht zu den «dunklen» Eigenschaften, die ihr vom spätantiken Okkultismus fälschlicherweise zugeschrieben wurden.

In Thrakien wurde sie ausschließlich als die weibliche Seite des Gottes Hermes verehrt, des Schutzgottes der räumlichen Grenzen, der Haustore und der Tore der Städte und Tempel («Pylaios» und «Propylaios»), der Wege und Wegkreuzungen («Odios» und «Enodios»), welcher außerdem in manchen Fällen dreiköpfig oder auch vierköpfig dargestellt wurde («Dreiköpfig, weil der dritte [Kopf] den philosophischen Logos impliziert … vierköpfig [genannt] wegen der Vielmacht des Logos», schreibt der Kommentator Homers Eustathios von Thessaloniki). Sie besaß wie Hermes die Eigenschaft als Psychopompos und Macht über die vier Ebenen («Hermes der Erde und des Himmels und des Meeres und der Unterwelt und Psychopompos», wie oben). Diese «hermeische» Natur der Göttin wurde dann von anderen griechischen Regionen übernommen und in manchen davon flossen auch Eigenschaften der Göttin Artemis ein oder der Göttin Selene (das zeigt sich bei Aischylos) oder der Göttin Nemesis, mit der sie viele Ähnlichkeiten aufweist. In den letzten beiden Fällen und wegen der Tatsache, dass ihr auch das abergläubische Element rückständiger Regionen oder fremder Religionen der hellenistischen Welt hinzugefügt worden ist, wurde die Göttin mit der Magie in Verbindung gebracht.

In einigen anderen Fällen wurde die Göttin Hekate mit der Demeter, Rhea und Persephone identifiziert, im hellenistischen und römischen Kreta wurde sie auch mit der Diktynna identifiziert. Nach der klassischen Zeit wurde die Göttin dreigestaltig dargestellt, d.h. mit drei Gesichtern, ganz nach den entsprechenden Darstellungen des Gottes Hermes.

Frevelhaft wird der Kult der Göttin während der Spätantike wegen ihrer Anrufung als vermeintliche Göttin der magischen und nekromantischen Künste durch Orientale, hauptsächlich Magier, Nekromanten und «Theurgen» von vulgärem Niveau, und das aufgrund ihrer synkretistischen Verschmelzung mit der sumerischen Ereskigal, mit der sie in der Anrufung eines magischen Papyrus aus dem 4. Jahrhundert gleichgesetzt wird («Hekate Ereskigal»). Auf dem gleichen Niveau, aber mit Ursprung im Volksaberglauben, bewegt sich ihre Assoziation mit dem vermeintlichen Gespenst «Empousa» (oder «Lamia» oder «Mormolykeion») oder die Erwähnung ihres Namens auf den «katadesmoi» (Fluchtafeln). Allerdings gibt es keinen schriftlichen Hinweis auf eine historische Person, welche die Göttin als «dunkle» Gottheit der Magier und Hexen verehrt hätte.

Heiligtümer – Widmungen

Ihr Kult ist rein griechischen Ursprungs, reicht mindestens bis ins 9. Jahrhundert zurück, zumal wir in der «Theogonie» des Hesiod (416-420) folgendes lesen: «Denn auch jetzt noch, wenn einer vielleicht der irdischen Menschen / Herrliche Opfer bringend, nach Brauch die Unsterblichen sühnet / Rufet er Hekate an, und reichliche Ehre begleitet / Den gar wohl, des Gebete die Göttin in Gnaden vernommen / Und sie verleihet ihm Segen: ihr steht ja die Macht zu Gebote». Darüber hinaus schloss William Berg bereits 1974 mit dem Thema ihrer Herkunft ab, und zwar in seinem bekannten Aufsatz «Hecate: Greek or ‹Anatolian›?» (Zeitschrift «Numen», Band 21, Ausgabe Nr. 2, S. 128-140).

In Thrakien wurde, wie bereits gesagt, ihrem Kult lediglich einige deutlich «hermeische» Eigenschaften hinzugefügt. Ihr griechischer Kult gewann in Karien lediglich an Stärke, indem er jedes ältere einheimische Äquivalent absorbierte. Dies geschah während der Regierungszeit des Königs Hekatomnos (Herrschaftszeit: 391-377), dessen theophorer Name eine Erklärung für diese Erstarkung liefert. Sein Nachfolger wurde sein Sohn Maussolos (Herrschaftszeit: 377-351). Die wichtigsten Zentren des karischen Kultes der Hekate waren die kleine Stadt Lagina, deren Schutzgöttin Hekate gewesen und in der sie als «Retterin, Größte und Ehrwürdigste» angeredet wurde, sowie die benachbarte Stadt Stratonikeia (die heutige Ortschaft Eskihisar), die von Antiochos Soter am linken Ufer des Marsyas, dem Nebenfluss des Maiandros, gegründet wurde. Stratonikeia hieß früher Idrias und ursprünglich Hekatesia (unter Antoninus Pius wird die Triade Zeus Hypsistos, Hekate Soteira und Tyche zu den Schutzgöttern der Stadt). Es war eben diese hohe Stellung der Göttin im hellenistischen und römischen Karien, die viele zu der Annahme verleitete, ihr Kult hätte in Karien seine Wiege gehabt. Außerdem gab es auch in Phrygien viele Kultstätten der Hekate, die aber alle in den hellenistischen und römischen Zeiten ihren Ursprung hatten.

Auf der Insel Ägina hatte die Göttin einen wichtigen Tempel. In den «Korinthiaka» schreibt Pausanias: «Unter den Göttern verehren die Aeginer am meisten die Hekate und feiern jährlich ein geheimes Fest der Hekate; sie behaupten, dass der Thrakier Orpheus ihnen das Fest gestiftet habe. Innerhalb des heiligen Bezirks der Hekate steht ein Tempel; das Schnitzbild [xoanon], ein Werk des Myron, hat nur ein Gesicht, so wie übrigens nur einen Leib; Alkamenes hat, wie ich glaube, zuerst drei Bilder der Hekate verfertigt, welche an einander hängend ein Ganzes bilden: dieses nennen die Athener Hekate Epipyrgidia [oberste Beschützerin der Burg] und sie steht zu Athen neben dem Tempel der Unbeflügelten Victoria» (2.30,2).

In Athen, wo die Göttin am Anfang der Hiera Odos ein Heiligtum besaß, wurde sie in vielen häuslichen Kulten zusammen mit Zeus, Hermes, Hestia und Apollon verehrt. Im Rahmen des Hauskultes wachte sie über den Wohlstand und das gute Schicksal (kale tyche) der Häuser, wo sie mit «Kalliste» («Allerschönste») angeredet und ihr zu Ehren jährlich ein Fest mit Prozession und Opferungen in Agrai abgehalten wurde, zum Andenken an den Sieg von Marathon. Wenn die Quelle nicht übertreibt, wie William Berg bemerkt, stand vor fast jedem athenischen Haus ein «Hekateion» oder «Hekataion», sprich eine Statue der Göttin.

Andere wichtige Kultzentren waren Smyrna, Alikarnassos, Herakleia am Latmos, Knidos, Tralleis, Argos (nahe am Heiligtum der Dioskuren, mit einer marmornen Statue des Skopas und einer Bronzestatue des Polyklet), Byzantion, Aphrodisias (als «Propylaia»), Rhodos (ebenfalls als «Propylaia», zusammen mit dem Hermes «Propylaios» und Apollon «Apotropaios»), Kos, Epidauros, Andros, Titane bei Sikyon, Syrakus, Thasos (mit einer Statue und Altären an drei verschiedenen Toren der Stadt), Selinous (wo sie über den Eingang zum Tempel der Demeter «Malophoros» wachte), Piräus, Kyrene (wo sie sich mit dem Hades und der Persephone einen kleinen Tempel teilte) und Samothrake.

Der älteste Kultfund wurde in Athen gefunden und ist eine kleine, beschriftete und auf einem Thron sitzende Tonfigur aus dem 6. Jahrhundert. In einigen Regionen war es üblich, an jeder Noumenia, nach dem Katharismos (Reinigung) der Häuser, zu Ehren der Hekate verschiedene Lebensmittel an den Wegkreuzungen niederzulegen (Honigkuchen, Eier, Fisch u.a.), die natürlich von nachtaktiven Tieren und Vögeln verzehrt wurden (selten auch von verarmten Menschen, die in der Nähe gewartet haben, obwohl dies als frevelhaft galt). Das waren die sogenannten «Hekataía» bzw. «Hekátaia» oder «Hekatesia» Speisen.

Der Tempel der Hekate stand ab dem 5. Jahrhundert am Eingang von Milet, wo die Göttin mit einer besonderen Musiktruppe und zwei Altären geehrt wurde (einen aus dem 6. und einen aus dem 1. Jahrhundert v.chr.Z.); ihr Kult war mit dem des Gottes Apollon in Didyma verbunden, mit einer Prozession, die in Milet begann und im Tempel und Orakel von Didyma endete. Während dieser Prozession wurden zwei mysteriöse Objekte herumgetragen, von denen eins bekränzt, mit unverdünntem Wein gewaschen und neben der Statue der Hekate an den «vorderen Toren» platziert, während das andere in den Tempel des Apollon gebracht wurde. Der erste Gesang der Prozession galt der Göttin Hekate.

Ihre Symbole sind die beiden Fackeln (pyrsoi), der hekatische strophalos (Wirbel), der Schlüssel (der bei Gefahr «die Tore verschließt» und bei günstigem Einfluss «aufsperrt») und der Dolch. Ihr heiliges Tier ist der Hund (wie auch der Schutzgöttin der Geburt Eileithyia «Genetyllida») und ihre heiligen Bäume die Eiche, der Haselnussstrauch, die schwarzen Pappeln (deren zweifarbigen Blätter die zweifache Bindung der Göttin mit der Welt der Lebenden und der Toten symbolisieren) und die Zypresse. Ihr wird Honig geopfert, ihre heiligen Pflanzen sind der Affodill und Eisenhut, ihre Opfertiere der schwarze Stier (wurde in Athen jedes Jahr zum Neujahr geopfert), das weibliche schwarze Schaf, aber auch der schwarze Hund (in Thrakien, Samothrake, Böotien, Makedonien und im ionischen Kolophon). Der Christ Eustathios von Thessaloniki liefert die – aufgrund seiner Funktion gesicherten – Information, dass ihr aus apotropäischen Gründen Mainiden geopfert wurden: «wird der Hekate gegen die Manie dargebracht».

Ihre Epitheta und Epiklesen* sind «Angelos», «Apotropaia» (diejenige, die abwendet und beschützt), «Dadouchos», «Einodia» und «Enodia» (der Wege), «Hegemone», «Therobromos», «Kleidouchos» und «Kliidouchos», «Kourotrophos», «Krokopeplos», «Lampadephoros», «Nykteria» und «Nyktipolos», «Phylax», «Pylaia» und «Prothyraia» (so in Proklos’ Hymne «An Hekate und Ianus»), «Skylakitis» (die von Hunden begleitet wird) und «Skylakagetis», «Soteira», «Tauropolos», «Triauchenos» und «Trikephalos», «Trioditis» (der Wegkreuzungen), «Hyexichthon» (die die Erde aufschneidet), «Philerimos» und «Ouresiphoitis» (d.h. einsam, wie die wenigen, die sich geistig entwickelt haben, mitten in der Menge einsam ihren Weg gehen), «Phosphoros» (die Lichtbringerin, «ΣΕΛΑΣ ΕΝ ΧΕΙΡΕΣΣΙΝ ΕΧΟΥΣΑ», «die Fackeln in den Händen trägt»), Chthonia usw.

In der orphischen Hymne an die Göttin heißt es:

«Ich preise dich Enodían Hekátēn, die du lieblich an den Kreuzwegen thronst. Safrangewandte Herrin des Himmels, der Erde und des Meers. Nebst den Gräbern du weilst, glücklich unter den Seelen der Toten. Tochter des Perseus, der Einsamkeit hold, erfreust du dich an den Hirschen. Freundin der Hunde in der Nacht, Unbezwingbare Königin! Herrscherin der Stiere bei der Jagd. Schlüsselträgerin des Weltalls, kindernährende Nymphe, schweifst in den Bergen des Nachts. Ungegürtete Jungfrau, sei anwesend bei den heiligen Riten, freundlichen Herzens dem Hirten gnädig.»

Hekate der Römer

Das römische Äquivalent der Hekate ist die Göttin Trivia (bedeutet «Drei-Wege», die «Trioditis»). Da sie von den Römern in der Spätantike übernommen wurde, ist auch sie zum Gegenstand des superstitionis geworden (d.h. des Aberglaubens, einer trüben Vorstellung von den Göttern), der entweder von der allgemeinen Auffassung oder von den Magiern und vulgären «Theurgen» ausging. Darüber hinaus ist das widerliche Bild von ihr als Schrecken erregendes Monster ein Produkt der spätrömischen Literatur. Im Gegensatz dazu wurde die Göttin von der Aristokratie Roms bis zum 4. Jahrhundert mit großer Frömmigkeit verehrt, mit Priestern, die ihren griechischen Namen annahmen, sowie den Namen des Gottes Dionysos (CIL XI 671, CIL VI 500, 504, 507, 510, 1675 und 31940).

Vlassis G. Rassias, März 2015

* Die Epitheta sind die Beinamen, Kulttitel der Götter, die Epiklese die Anrufung einer Gottheit unter einem ihrer Beinamen, A.d.Ü.