Auszug aus dem Buch «Γεννήθηκα Έλληνας: Δεκατέσσερα πολυθεϊστικά κείμενα» von Marios Verettas (Athen: Verlag Verettas 2003). Übersetzung und Veröffentlichung mit Genehmigung des Autoren. Aus dem Griechischen von Stilian Ariston Korovilas.

Die Götter unserer griechischen Vorfahren sind uns mehr oder weniger bekannt. Doch heute betrachten die meisten von uns sie nicht als echte Götter. Wir betrachten sie eher als die Helden bezaubernder, bezauberndster Geschichten – der Mythen – und nicht als transzendentale, achtunggebietende und verehrungswürdige Gestalten… Und das ist deshalb so, weil wir gelernt haben, weil uns beigebracht wurde, weil wir indoktriniert wurden, die griechischen Götter als Fantasiegeschöpfe unserer Vorfahren zu betrachten – unserer naiven, äußerst naiven Vorfahren, denn so werden sie uns präsentiert, obwohl sie Kunst und Sprache entwickelten, die Bildhauerkunst, die Malerei, das Töpferhandwerk, die Orchestrik, Architektur, Schifffahrt, den Schiffbau, die Medizin, Landwirtschaft, Mathematik, Astronomie, Gymnastik, das Theater, die Metallurgie, Poesie, die Schreibkunst, Gerechtigkeit, den Begriff der Freiheit und Demokratie, die Physik, Technik, Automatik, Philosophie, Atomtheorie und viele andere Dinge mehr, die für das Leben des Menschen von Nutzen sind oder kurz alles, was den Begriff Zivilisation ausmacht. Doch diesen ach so armen Leuten ist es nicht gelungen, wurde uns gesagt, die «vollkommene Religion» zu erfassen und deshalb verehrten sie – Rohlinge, die sie angeblich waren – die Götzen!
Später haben gewisse Herren – vor und für uns – dafür Sorge getragen, dass dieser massive «Missstand» unserer Vorfahren «behoben» wurde, von ihnen, die Fremde in diesem Land waren, noch dazu von zweifelhafter intellektueller Kultivierung und oft genug von moralisch niederträchtigem Format, dafür aber von einer zügellosen Intoleranz ergriffen.
Ihre Methode war einfach:
Sie verurteilten die gesamte antike Zivilisation als Konstrukt (ihres) Satans, lehnten voller Abscheu die Gesamtheit der zivilisatorischen Beiträge unserer Vorfahren ab, zerschlugen alle Statuen, verzerrten die Malerei, indem sie sie in den Dienst der Hässlichkeit stellten, bewahrten nur den praktischen Aspekt des Töpferhandwerks, belegten die Orchestrik mit einem Verbot, entstellten die Architektur, degradierten die Schifffahrt und den Schiffbau, entwürdigten die Medizin, wandten der Landwirtschaft den Rücken zu, verfluchten die Mathematik und Astronomie, belegten Theater und Gymnastik mit Verboten, beschränkten die Metallurgie auf das Nötigste, zwangen die Poesie und Musik dazu, allein der nasalen Kakophonie zu dienen, stellten das geschriebene Wort in den Dienst unerschöpflicher Dummheit, setzten an Stelle der Gerechtigkeit die Willkür, schafften jeden Funken von Freiheit und Demokratie ab, belegten die Physik mit einem Verbot, behielten von der Technik und Automatik nur das bei, was der kaiserlichen Effekthascherei diente, stellten jede Beschäftigung mit Philosophie unter Todesstrafe, den Wert der Atomtheorie konnten sie nie erahnen, keinen antiken Tempel haben sie undemoliert stehen lassen und an ihrer Stelle errichteten sie auf ruhmreiche und ehrbare Weise das, was dem Repertoire unserer Vorfahren gefehlt hat: die «vollkommene Religion».
All dies, wird uns erzählt, haben sie aufgrund ihrer übermäßigen Liebe zu uns getan. Sie ernannten sich selbst zu «Hirten» und verliehen uns den – nicht so schmeichelhaften – Titel der «Herde». Aufgrund also ihrer Liebe zu uns, haben sie entschieden, dass wir zu grasen haben und dass sie uns weiden. Und über die simple Wahrheit, dass eine Herde nie zum eigenen Wohl, sondern immer zum Wohle des Hirten versorgt wird, wird kein Wort verloren!
So sind die Hirten also zu uns gekommen, und nachdem sie die gesamte antike Kultur – unser antikes Erbe – zerstörten, haben sie, ohne zu fragen, uns ihre «vollkommene» Religion auferlegt. Doch wollen wir uns an dieser Stelle nicht mit dieser Religion befassen. Hier werden wir uns kurz mit der anderen Religion befassen, der «unvollkommenen», wie sie genannt wurde, der Religion unserer Vorfahren, und einen schnellen Blick auf ihre… «Unvollkommenheiten» werfen, wobei wir von Anfang verpflichtet sind, anzuerkennen, dass sie das exzellente Bindeglied zwischen all den brillanten Manifestationen der antiken Kultur darstellte, und zwar insofern, als dass sich hinter jeder guten Kunst eine Muse verbarg, hinter jeder Technik Hephaistos, hinter jeder Art von Landbewirtschaftung Demeter, hinter jeder Schule der Philosophie Athena, hinter jedem Gesetz Themis, hinter jeder Therapiemethode Asklepios, hinter jeder Theateraufführung Dionysos, hinter jedem Handel Hermes usw. Wie sahen die religiösen Vorstellungen unserer Vorfahren also aus? Uns wurde beigebracht zu sagen und zu denken, dass «die alten Griechen an die zwölf Olympier und an unzählige andere Götter und Göttinnen glaubten».
Das ist eine Lüge. Das Verb «glauben» fehlt vollständig in der Terminologie der altgriechischen religiösen Vorstellung. Der Begriff «Glaube» verweist auf die blinde Annahme eines autoritären und nicht überprüfbaren Dogmas, während das Adjektiv «gläubig» nur einen Diener beschreibt. Aber unsere Vorfahren waren freie Menschen. Sie «glaubten» nicht an die Göttinnen und Götter. Sie verehrten sie bloß. Und der Begriff der Verehrung (latreia) führt uns direkt zu dem des Eros.
Denn es verehrt allein der, der verliebt ist. Nur der Verliebte wird von der Schönheit des Subjekts angezogen, dem seine Gefühle gelten, verehrt seine Schönheit, ebenso wie die Seele vom Duft, der schönen Form und den Farben der Blume angezogen wird.
Unsere Vorfahren «glaubten» also nicht an die Göttinnen und Götter. Stattdessen verehrten sie sie, weil sie in sie verliebt waren. Sie waren in die Schönheit der griechischen Landschaft verliebt. Verliebt in das Morgengrauen, verliebt in das Abendlicht, verliebt in den blauen Himmel, verliebt in die majestätischen Berge, verliebt in das vielbewegte Meer, verliebt in die goldene, lebensspendende Sonne, verliebt in den rätselhaften Mond, verliebt in den befruchtenden Regen, verliebt in die feuchte Erde, die Früchte trägt, wenn sie mit Regen überzogen.
Unsere Vorfahren wussten, dass die erotische Anziehung die Antriebskraft allen Lebens ist und deshalb verehrten sie den Gott Eros. Und weil die Schönheit die Hauptwaffe der erotischen Anziehung ist, verehrten unsere Vorfahren die Schönheit. Unsere Vorfahren wussten, dass das Mittel zum Verständnis des Kosmos die Intelligenz des Verstandes (nous) ist. Und weil der kostbarste Schatz des Verstandes das Wissen ist, verehrten unsere Vorfahren die Weisheit… Drei Wörter reichen aus, um dem ganzen Reichtum der religiösen Gefühle und dem gesamten Wesen der antiken religiösen Vorstellung Ausdruck zu verleihen: Philopatria (Liebe zur Heimat), Philokalia (Liebe zur Schönheit), Philosophia (Liebe zur Weisheit). Eros zum Vaterland, Eros zum Schönen, Eros zur Weisheit. Und unsere die Heimat, Schönheit und Weisheit liebenden Vorfahren schafften unzählige Mythen, um den kommenden Generationen – und letztendlich auch uns – auf eine poetische, reizvolle und zeitlose Weise, die gesamte Volkserfahrung, das Wissen unzähliger Jahrhunderte zur Verfügung zu stellen.
Hier liegt der Wert der Mythen. Und die Mythen reden freilich über die Göttinnen und Götter. Was waren nun die griechischen Götter? Waren sie Geschöpfe der Fantasie und der «unvollkommenen» religiösen Vorstellung unserer Vorfahren oder waren sie vielleicht etwas viel Bedeutenderes? Allwaltende Wesenheiten, die die unzivilisierten Vorfahren unserer Vorfahren belehrten und aufklärten? Oder vielleicht poetische Allegorien für die Kräfte der Natur, die den Erhalt des Universums ausmachen, bestimmen und gewährleisten? Es ist nicht einfach, die griechischen Götter zu definieren. Sie umfassen einen solch unermesslichen Reichtum an Vorstellungen, Wissen und Gefühlen, dass ganze Bände an ausführlichen Abhandlungen nicht ausreichen würden, um sie zu beschreiben. Die griechischen Götter sind vielgestaltig, vielfältig, vielschichtig.
Im einen Moment treten sie in den Träumen der Kinder als zärtliche Gefährten auf, die mittels der Schönheit der Mythenerzählung zu höchsten Idealen inspirieren können, die für ihr gesamtes Leben entscheidend sind, im nächsten Moment erscheinen sie den Erwachsenen, die sie anrufen, als eifrige Freunde und Helfer in den täglichen Notlagen, und schließlich erscheinen sie denen, die es wünschen, als allweise und immer freundliche Hierophanten, die in der Lage sind, den Mysten eine Vielzahl an Schätzen ewiger kosmischer Weisheit zu enthüllen. Die griechischen Götter befinden sich nicht außerhalb des Universums noch haben sie den Kosmos erschaffen. Dieser Kosmos existierte, existiert und wird auch in Zukunft aus sich selbst heraus existieren. Die Göttinnen und Götter bewohnen und pflegen ihn bloß.
Ob es uns gefällt oder nicht, solange es Leben gibt, wird es auch die griechischen Götter geben. Denn die griechischen Götter sind das Leben selbst. Und es liegt ganz an uns und nicht an ihnen, von den Ehrbekundungen ihnen gegenüber Gewinn zu ziehen. Wenn wir einen Baum pflegen, wenn wir ihn bewässern, einpflanzen und mit Liebe umgeben, wird er uns viele Früchte wie auch den Genuss seines schönen Anblicks schenken. Wenn wir uns von ihm abwenden, wird er möglicherweise austrocknen, aber seine Samen werden ewig bestehen bleiben, unveränderlich, unsterblich, bereit zu keimen, sobald die richtigen Bedingungen eingetreten sind, um die ganze Erde mit Wäldern voller prächtiger Bäume zu bedecken. Das Gleiche gilt für unsere Götter. Sie existieren aus sich selbst heraus, ewig, unsterblich, unvergänglich. Wie das Universum, das wir und das auch sie bewohnen. Wenn wir uns um sie kümmern, werden sie sich um uns kümmern. Wenn wir sie ehren, werden sie uns ehren. Wenn wir uns in sie verlieben, werden sie sich in uns verlieben!
Zur Person: Marios Verettas (geb. 1947) ist ein hellenischer Regisseur, Übersetzer, Verleger und Autor von über 50 Büchern. Er hat mehr als 80 Bücher ins Griechische übersetzt, darunter Werke von Alan W. Watts, John Gribbin und Lyall Watson. Außerdem ist er Herausgeber einer griechischen Zeitschrift über die epikureische Philosophie («Der Garten Epikurs»). In zahlreichen Auftritten im griechischen Fernsehen und Radio verteidigte Verettas die hellenische Religion und Weltanschauung. Verettas ist Epikureer.