«Das Gebot unserer Zeit ist eine neue Aufklärung.»

Ourania Toutountzi: «Das Gebot unserer Zeit ist eine neue Aufklärung.»

Ourania Toutountzi (geb. 1965) ist eine griechische Schriftstellerin, die den Leser in fantastische Länder führt, zur Fülle und Gelassenheit. Sie besitzt ein überraschendes, wunderbares und kreatives Talent, das Angebot und Gegenleistung in sich vereint, das von Qualität und einer optimistischen Sichtweise geprägt ist. Sie hatte von klein auf erwartungsvoll und leidenschaftlich darauf gewartet, was das Leben für sie bereithielt. Sie ist ein aktiver, intelligenter und ästhetischer Mensch. Sie zieht es vor, den Märchen ihren Zauber zu lassen und nach der Weisheit zu streben, die ihr das tägliche Schreiben bietet. Das zeigt sich darin, dass sie ihre Tugend und ihr Filotimo hoch hält. Sie ist ein Mensch, der auch in Zeiten des Leids und der Frustration an ihrem Mut und ihren Stolz festhält, um ihr Glück auf einer stabilen Grundlage zu entfalten. Das Interview wurde am 24. Mai 2013 in der Zeitung «Ta Meteora» veröffentlicht und mit Erlaubnis der Zeitung ins Deutsche übersetzt.

Ourania Toutountzi
Ourania Toutountzi

Das Interview

Frau Toutountzi, wie ist es Ihrer Meinung nach um die Qualität heutiger Kinderbücher bestellt?

Meiner Meinung nach hat die Kinderliteratur sowohl im griechischen als auch im europäischen Raum ein hohes Niveau. Ich möchte jedoch betonen, dass ich absolut davon überzeugt bin, dass die griechische Kinderliteratur derzeit eine der besten (wenn nicht sogar den besten) Plätze in der internationalen Kinderliteratur einnimmt.

Das mag vielleicht an unserer reichen Mythologie liegen. Oder vielleicht an der großen modernen Tradition, die von Schriftstellern wie Kazantzakis, Xenopoulos, Delmouzos (mit seinem berühmten «Alphabet der Sonne») begründet wurde, die auch Bücher für Kinder geschrieben haben, so dass die Messlatte bereits sehr hoch lag. Aber vielleicht liegt es auch an der Sonne, am Licht… Tatsache ist, dass wir in unserem Land immer noch und trotz der Krise wunderbare Kinderbücher schreiben.

Wie stark hat die Krise Sie als kreativen Menschen und die Welt der Bücher beeinflusst?

Für die Menschen, die seit Jahren im Bereich der Buchszene aktiv sind, ist die Krise keine neue Erscheinung. Natürlich wissen wir darüber Bescheid, und das seit Jahrzehnten. Wir haben das selbstverständlich oft angesprochen, aber je mehr sich die Menschen der Krise bewusst werden, desto nachdenklicher werden sie, desto mehr Fragen stellen sie, denken mehr nach. Ich denke, sehr bald wird es eine neue Rückbesinnung auf Bücher geben, ähnlich wie in den vergangenen Jahrzehnten.

Sind Sie optimistisch, pessimistisch, gelassen oder besorgt, wenn Sie auf das blicken, was gerade um uns herum passiert?

Natürlich mache ich mir Sorgen, aber gleichzeitig bin ich gelassen und optimistisch. Ich denke, dass das, was sie uns unbedingt als eine weitgehend «ökonomische» Krise im engeren Sinne präsentieren wollen, vor allem eine Krise der Werte ist, eine Krise der Politik und der Kultur. Und auf die Krise der Kultur müssen wir sicherlich mit Kultur antworten. Das Gebot unserer Zeit ist eine neue Aufklärung. Das ist die Voraussetzung für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel.

Kann die Lage, in der wir uns jetzt befinden, dazu führen, dass die Kompetenten erkannt und die Unfähigen «demaskiert» werden?

Jede Krise kann Anlass für eine solche Entwicklung sein. Dazu müssen wir uns jedoch alle daran erinnern, dass wir allen voran Bürger sind, und das bedeutet wiederum, dass wir nicht nur unser eigenes Leben in die eigene Hand nehmen müssen, sondern auch das kollektive Leben in der Gesellschaft (zumal es nicht möglich ist, das eine ohne das andere zu machen).

Gibt es heutzutage noch Ehrgefühl* oder kommt das eher selten vor?

Der Weg der Tugend mag nicht der meist «begangene» sein, aber es gibt immer auch jene, die sich für diesen Weg entscheiden. Und solche Menschen wird es immer geben. Es ist wahr, dass Menschen ohne Ehrgefühl oder ohne Tugend sowohl anderen Menschen als auch der Gesellschaft im Allgemeinen sehr viele Probleme bereiten können. Und das mag manchmal den Eindruck erwecken, dass es allgemein einen Mangel an Ehrgefühl gibt.

Es zeichnet Sie eine große seelische Stärke aus. Was bedeutet Stärke für Sie persönlich?

Der Mensch muss kämpfen, seinen Weg aufrecht gehen, aber auch Courage zeigen und wieder aufzustehen, wenn er fällt. Vielleicht erlebt und versteht jeder einzelne auf seine ganz eigene Weise, was es bedeutet, «stark zu bleiben». Aber um stark zu sein, musst du an den Menschen glauben.

Wie alt waren Sie als Sie Ihr erstes Buch geschrieben haben?

Mein erstes Buch war der philosophische Essay «Der Logos und das Sein», das ich im Alter von 29 Jahren geschrieben habe.

Sie haben in einem Interview einmal gesagt, dass Ihr Vater Sie in die Welt der Bücher einführte und Ihnen u.a. Kavafis vorlas. Wollen Sie uns etwas darüber erzählen?

Mein erstes Buch wurde mir von meinem Vater vorgelesen. Es war ein Kindermärchen. Von da an und für die nächsten achtundzwanzig Jahre, die er bei mir war, führten unsere Spaziergänge zu den Buchläden, wo wir Bücher aussuchten und viel über die Dinge sprachen, die wir gelesen hatten. Die Beziehung zu meinem Vater und unsere Beziehung zur Literatur war stets von Lebendigkeit erfüllt. Was mein Vater mir beigebracht und vererbt hat, war nicht nur eine Reihe von akademischen Kenntnissen, sondern eine gewisse Lebensqualität, die ich jetzt an meinen Sohn weitergeben möchte. Mein Vater lehrte mich die Würde des Lebens. Er lehrte mich, diese Würde in den Versen von Kavafis zu erkennen, des meiner Meinung nach bedeutendsten neugriechischen Lyrikers. Ganz gleich, wie viele Jahre auch vergangen sein mögen, immer wieder kehre ich zu Kavafis zurück. Und wie die «vollkommenen und geliebten Stimmen» des Konstantinos Kavafis, klingt in mir die Stimme meines Vaters, wie er mir aus der «Ithaka» vorlas, dem «Ionikon», den «Thermopylen», den «Trojanern» und dem von uns beiden geliebten «Verlasse der Gott Antonius».

War Ihnen diese berufliche Laufbahn vorherbestimmt, Frau Toutountzi?

Schon von Anfang an war das Schreiben für mich nicht nur eine Tätigkeit, sondern eine Lebensweise. Recht früh entdeckte ich auch meine Liebe zur Pädagogik. Sowohl in der Charokopio-Universität, wo ich Studentinnen und Studenten in Philosophie unterrichtet habe, als auch im «Workshop für Altgriechisch», den ich für Grundschulkinder organisiere, meine ich, eine angeborene Neigung auszuleben, die für mich entscheidend ist.

Ihr letztes Buch trägt den Titel «Und hoch mit ihm!» und ist im Verlag Dioptra erschienen. Ist das Buch ein Handbuch für Eltern, das ihnen helfen soll, etwas mit den Kindern zu unternehmen, das ihren Interessen entspricht?

«Und hoch mit ihm!» ist tatsächlich ein Handbuch für Eltern, die Ideen suchen, um ihren Kindern Allgemeinbildung und Kultur zu vermitteln. Gleichzeitig bietet das Buch auch eine «andere Sichtweise» an, einen Vorschlag für eine alternative Erziehung und Bildung unserer Kinder. Dieses alternative Angebot richtet sich sowohl an die Eltern als auch an die Erzieher.

Glauben Sie, dass die Zeit, die Eltern heute mit ihren Kindern verbringen, produktiv ist?

Ich glaube, dass die Eltern sich dieser Notwendigkeit zunehmend bewusst werden und nach Wegen suchen, um die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen, so schöpferisch wie möglich zu gestalten.

Von welchen Faktoren hängt Ihrer Meinung nach die Bildung eines Kindes ab?

Theoretisch hängt die Bildung eines Kindes von drei Faktoren ab: von der Familie, in der das Kind aufwächst, der Schule und dem Staat im Allgemeinen. Ein gut regierter Staat mit gerechten Gesetzen, die auch angewendet werden, erzieht die Jugend zu guten Bürgern. Die Schule vermittelt die notwendigen Kenntnisse, die die Grundlagen für die Entwicklung der Kinder als auch für deren akademische Laufbahn legen, und die Familie wiederum bereichert, verbessert und unterstützt diese Arbeit. So sollte es zumindest sein. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber der heutige Staat nimmt diese Rolle nicht nur nicht wahr, sondern macht das genaue Gegenteil. Die Schule wiederum ist die Geisel eines schlechten Bildungssystems, dem die Lehrer folgen müssen. Somit bleibt das Ganze bei den Eltern hängen. Deshalb ist es ja auch so gut, dass Eltern und Lehrer sowohl auf individueller Ebene als auch innerhalb der Elternverbände aktiv werden.

Frau Toutountzi, Sie haben unter anderem auch sieben Bücher über Philosophie geschrieben. Welche Bedeutung hat die Philosophie für Sie?

Philosophie bedeutet in erster Linie und vor allen anderen Dingen, Fragen zu stellen. Die Philosophie mag keine festgelegten Antworten, und deshalb ist sie das Gegenteil von Dogmatismus. Aber die Fragen, die die Philosophie stellt, sind nicht einfach irgendwelche Fragen. Es sind Fragen über die Existenz, Fragen über das Sein. Und wenn ich mir so anschaue, wie die Philosophie im alten Griechenland entstanden ist, dann glaube ich, dass die Philosophie kein Beruf oder Fachgebiet ist und das auch nie sein wird, sondern das Hauptanliegen eines jeden frei denkenden Menschen.

Ihre beiden Bücher «Der höfliche König» und «Und hoch mit ihm!» richten sich an Kinder. Wie ist es zu dieser neuen Entwicklung gekommen?

In Wahrheit richtet sich «Und hoch mit ihm!» in erster Linie an die Eltern von Grundschulkindern. An die Kinder der ersten Grundschulklasse richtet sich mein «Alphabetbuch» wie auch meine beiden Kinderromane «Der höfliche König: Eine Geschichte aus dem antiken Athen» und «Als der Parthenon erbaut wurde».

Ich würde das nicht als eine neue Entwicklung bezeichnen. Philosophie und Pädagogik sind schon immer parallele Wege gegangen. Die Tatsache, dass ich selber ein Kind erziehe, war sicherlich auch ein Grund dafür, dass ich das Bedürfnis hatte, Bücher zu schreiben, die die Seelen der Kinder berühren.

Wie erkennt der Leser den Wert eines Buches?

Wenn er beim Lesen des Buches fühlt, dass es authentisch ist. Wenn er spürt, wie er vom Wahren und Ursprünglichen berührt wird.

Was kann Sie zum Weinen bringen?

Kunst und Menschlichkeit. Ärger über jede Form von Unrecht, über jede Art und Form des Rassismus (aufgrund der Nationalität oder der sozialen Stellung).

Über die Autorin: Ourania Toutountzi ist Soziologin und Doktorandin an der Pantion-Universität Athen. Von 2002 bis 2006 unterrichtete sie das Wahlfach «Philosophie-Kultur-Kommunikation» an der Charokopio-Universität in Athen. Sie hat sich mit dem Unterricht auf allen Bildungsebenen auseinandergesetzt. Ihre Vision ist eine grundlegende Reform des Bildungssystems. Seit 2011 organisiert sie Kurse in Altgriechisch für Grundschulkinder. A.d.Ü.: Frau Toutountzi wird innerhalb der hellenischen Gemeinde hoch geschätzt. Sie hat bisher 15 Bücher publiziert und über 50 Werke ausländischer Autoren ins Griechische übersetzt, darunter auch Edith Halls «Introducing the Ancient Greeks» und Erich Fromms «Haben oder Sein». Sie gibt Kurse in Altgriechisch für Kinder und Erwachsene und steht der stoischen Philosophie nahe, insbesondere Marcus Aurelius.

* Filotimo, das hier mit «Ehrgefühl» übersetzt wurde, lässt sich auch mit «Stolz» oder auch mit «Großzügigkeit» übersetzen. AdÜ.