Absichtsloses Beobachten
Stilian Ariston Korovilas
Die folgende Übung stammt aus der (vorsokratischen) Naturphilosophie und dient der Gesundheit unserer Psyche. Ziel dieser geistigen Übung ist der Abbau von Stress, die Klarheit des Geistes nach einem Streit oder einer anderen unangenehmen Situation, innere Ruhe und die Bewusstwerdung der Teilnahme am Sein. Wird diese Übung regelmäßig und über einen längeren Zeitraum praktiziert, kann es zu einer Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und Beobachtungsgabe kommen, was zwar zu begrüßen, aber nicht Sinn der Übung ist. Im Idealfall wird die Übung nach der Abenddämmerung ausgeführt, wenn die Welt um uns herum in Dunkelheit versinkt und es still wird. Doch das ist kein Muss: Wenn sie entsprechend angepasst wurde, kann sie zu jeder Tageszeit ausgeführt werden, vor allem auch in der Arbeit, etwa wenn wir Mittagspause haben oder unser Denken blockiert ist und wir mit einem Projekt nicht weiterkommen. Sie kann aber auch dann helfen, wenn wir nicht mehr aufnahmefähig sind und Probleme beim Lernen haben.
Das absichtslose Beobachten ist kein Ersatz für medizinische Behandlung oder Therapie.
Die Übung
Wir können diese Übung draußen im Garten, auf dem Balkon oder aber auch in der Wohnung praktizieren. Bevor wir mit der eigentlichen Übung anfangen, sorgen wir dafür, dass wir es bequem haben. Es liegt an uns, ob wir stehen oder lieber gemütlich auf einem Stuhl sitzen oder sogar liegen möchten. Am besten wäre es, wenn wir uns irgendwo hinlegen oder sitzen können, denn die Übung kann 10 bis 15 Minuten dauern. Wichtig ist, dass uns warm ist und wir uns wohl fühlen; dass wir uns nicht unter Stress setzen, die Übung auf Anhieb „richtig“ zu machen oder gar „erfolgreich zu meistern“. Noch müssen wir der Anleitung diktatorisch folgen. Das Prinzip ist wichtig. Der Rest ist Auslegungsmasse.
Wir warten, dass es draußen dunkel und ruhig wird, so dass wir in Ruhe den Himmel betrachten können und dabei nicht abgelenkt werden. Damit wir tatsächlich ungestört bleiben, müssen wir vor der Übung die Kinder zu Bett gebracht haben, unserem Lebenspartner oder unserer Lebenspartnerin sagen, dass wir für die nächsten 10 bis 15 Minuten Zeit für uns brauchen, das Handy ausschalten und dafür sorgen, dass keine Arbeit, kein Teller übrig bleibt, der nach der Übung in die Spüle muss.
Wenn es die Umstände erlauben, sollten wir uns an die frische Luft begeben und einen ruhigen Ort im Garten suchen, wo wir für einige Minuten ungestört und allein sein können. Falls wir keinen eigenen Garten oder Balkon haben, können wir das Licht im Zimmer ausschalten und ein Fenster öffnen, durch das wir den Himmel im Blick haben.
Wir schauen in den Himmel, betrachten die Sterne oder Lichter, die wir sehen können. Wir denken an nichts. Interpretieren nicht. Wenn wir den Himmel sehen, sehen wir nur den Himmel. Wir assoziieren nicht, personifizieren nicht, legen keinen „Film“ auf unsere Augen. Dabei atmen wir tief ein und aus, sodass wir uns entspannen und lockern können. Hier in der Dunkelheit und Stille lassen wir los. Den Tag, unsere Pflichten, Sorgen. Sie sind jetzt nicht. Jetzt muss keine Rechnung bezahlt werden. Jetzt muss keine Miete überwiesen werden. Jetzt wird kein Antrag gestellt. Jetzt atmen wir. Ein. Und aus. Ein. Und aus. Und wir schauen in den Himmel, denken dabei nicht, verfolgen keine Absicht. Lassen uns vom Augenblick auffangen. Es ist nicht schlimm, wenn es nicht sofort klappt. Es kann sein, dass wir uns dabei erwischen, wie wir den Himmel deuten, Gedanken haben, Bilder im Kopf aufblitzen. Das ist nur natürlich. Wenn wir bemerken, dass wir uns aus der Übung ausgeklinkt haben, fangen wir wieder von vorne an.
Jetzt müssen wir keine Leistung erbringen. Jetzt ist kein ICH. Nur das beobachtende Auge. Und dabei atmen wir ruhig ein und aus.
Wir prägen uns die Stellung der Sterne ein, ihre Größe. Wir verfolgen die Flugzeuge oder Vögel am Himmel, falls wir zu der Zeit welche sehen können, und nehmen ihre Größe, Farbe und Bewegung wahr. Wir registrieren ihren Flug, und lassen los. Wir sind ganz Himmel, gehen in der Nacht auf.
Wir beobachten das Dunkel, die Nacht. Absichtslos, ziellos, leer. Und atmen ein und aus. Wir überlassen uns der Nacht, der tiefen Stille. Da ist kein Streit mehr, keine bösen Worte, keine Vorhalten, keine Erwartungen. Jetzt ist es Nacht und über uns ist der Himmel. Es gibt kein schön oder hässlich, gut oder böse. Nur den Himmel.
Wir beobachten den Himmel, von rechts nach links, von links nach rechts, von oben nach unten und von unten nach oben. Und wenn wir den Himmel einatmen und den Himmel wieder ausatmen, wenn wir selber Himmel sind. Atmen wir tief aus. Wenn wir bereit sind, uns erfrischt und leicht fühlen, schließen wir unsere Augen und signalisieren unserem Körper, dass die Übung vorbei ist. Dazu atmen wir bewusst tief ein und tief aus. Dann öffnen wir unsere Augen und sind wieder da. Wir spüren unseren Körper, unsere Füße, strecken uns und sind wieder voll da.
Damit ist die Übung beendet. Da wir die meiste Zeit nur atmen und in den Himmel schauen, hängt es von uns ab, wie lange die Übung letztendlich dauert. Unser Körper sagt uns, wann die Übung langsam zum Schluss kommt. Wir vertrauen der Weisheit unseres Körpers und beenden die Übung, nachdem wir wissen, dass es getan ist und sie ihren Zweck für heute erfüllt hat. Nach der Übung können wir eine Tasse Tee trinken oder direkt zu Bett gehen. Das liegt ganz an uns.
Wenn wir wollen, können wir die obere Übung erweitern. Dafür schlage ich weiter unten eine weitere Übung vor, die wir im Anschluss ausführen können, wenn wir das Bedürfnis danach haben. Diese zweite Übung gehört nicht zum absichtslosen Beobachten.
Zweite Übung
Nachdem wir das absichtslose Beobachten beendet haben, können wir mit der folgenden Übung fortfahren. Wir können in der gleichen Position wie zuvor verharren oder aber auch die Stellung wechseln. Das hängt ganz allein von unserem Wohlbefinden ab.
Jetzt ziehen wir unsere Aufmerksamkeit von den Augen ab und führen sie den Ohren zu.
Wir hören in die Nacht. Wir hören, den Wind in den Blättern, das Flugzeug, das vielleicht in diesem Moment über uns am Himmel fliegt. Die Geräusche der Fledermäuse. Das Flüstern der Nacht. Wir hören. Nicht denken. Interpretieren nicht, fürchten nicht, spannen nicht die Muskeln an. Die Nacht fängt uns auf und wir hören genau zu. Den Geräuschen, die von weit her kommen. Den Geräuschen, die wir vielleicht selber erzeugen. Wir hören, nehmen gewahr, halten aber nicht daran fest. Mal lenken wir unsere Aufmerksamkeit dem rechten Ohr zu, dann wieder dem linken.
Wir denken nicht über die Geräusche nach. Sondern atmen sie ein und wieder aus. Sie gehören uns nicht. Es ist egal, woher sie kommen. Egal, durch was sie ausgelöst werden. Egal, wie sie zu uns kommen. Sie kommen und gehen. Wir atmen ein, wir atmen aus. Wir hören und lassen los. Wir sind ganz Ohr. Wir spüren unseren Körper und hören zu. Die Welt spricht. Wir hören zu. Wir versuchen nicht zu „verstehen“. Es gibt nichts zu verstehen. Wir antworten nicht. Wir atmen. Wir atmen mit den Ohren ein, atmen mit den Ohren aus. Wir nehmen mit den Ohren auf, und lassen dann wieder los.
Wenn wir bereit sind, schließen wir unsere Augen und signalisieren unserem Körper, dass die Übung vorbei ist. Dazu atmen wir bewusst tief ein und tief aus. Dann öffnen wir unsere Augen und sind wieder da. Wir spüren unseren Körper, unsere Füße, strecken uns und sind wieder voll da.
Damit ist die Übung beendet.