White Supremacy oder die Masken des politischen Monotheismus

Stilian Ariston Korovilas, 28. Thargelion des 4. Jahres der 698. Olympiade / 25.05.2017

72 Jahre. So viele Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. 72 Jahre seit dem Massenmord an den Juden. 72 Jahre seit der Inhaftierung von Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuellen, Widerstandskämpfern und anderer Gruppen in die Konzentrationslager der Nazis. Und 72 Jahre seit der Inhaftierung der Odinisten in die Konzentrationslager der Nazis. Und das «Abendland» hat nichts daraus gelernt, nicht einmal zwischen Odinismus oder Asatru auf der einen Seite und Okkultismus, Ariosophie und «Neopaganismus» auf der anderen zu unterscheiden.

Offenbar reicht es nicht, dass die Odinisten des 20. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung immer noch als Nazis verleumdet und mit den Verbrechern in Menschengestalt gleichgesetzt werden, die ihre Symbole vergewaltigten und sie selbst in Konzentrationslager einsperrten. Auch die heutigen Odinisten werden mit dem Faschismus in Verbindung gebracht und in einen Topf geworfen mit «Neuheiden», Ariosophen und Okkultisten, ganz so, als bestünde kein Unterschied zwischen einer europäischen ethnischen Religion und den verschiedenen neuen religiösen Bewegungen des Abendlandes. Zu solchen abstrusen Verzerrungen sind nicht nur Narren fähig, wie wir Hellenen aus unserer eigenen Geschichte wissen, sondern auch scheinbar denkfähige Journalisten. Und ich sage scheinbar, denn einige Exemplare dieser Gattung scheinen nicht nur eine dysfunktionale Beziehung zur harten Realität zu führen, sondern lassen auch das zusammenhängende Denken vermissen. Anders kann ich ihre journalistischen Ergüsse nicht deuten.

In den USA befindet sich die «White Supremacy», eine rassistische Ideologie, die von einer natürlichen Überlegenheit der «weißen Rasse» gegenüber den anderen ausgeht, im Aufwind. Von diesem Aufwind werden mehrheitlich Männer erfasst, die bereit sind, für ihren Rassenkrieg und die weiße Vorherrschaft nach der Knarre zu greifen. Mehrere Anschläge der letzten 20 Jahre in den USA gehen auf das Konto der «White supremacists», wie die Anhänger dieser Ideologie genannt werden. Mit der Tötung von Unschuldigen versuchen sie ihren heiß herbeigesehnten Rassenkrieg in Gang zu setzen, ihre Gesellschaft von «Nicht-Weißen» zu «säubern». Ihre Ideologie ist ein Mischmasch aus nationalsozialistischer Rassenlehre, Nationalismus, Kolonialismus, Verschwörungstheorien, Positives Christentum und Soteriologie. Ihrer Ansicht nach werden «Weiße» in den USA zwischenzeitlich nicht nur benachteiligt, sondern sind sogar vom Aussterben bedroht. Auf der Facebook-Seite des «The Aryan Traditionalist» ist vom «Zusammenbruch der weißen Rasse» die Rede. Außerdem beklagen sie eine moralische Degeneration der westlichen Welt, worunter sie aber nicht die Interventionskriege oder die drohende Naturkatastrophe verstehen, sondern die Legalisierung von gleichgeschlechtlichen Ehen, Mischehen, eine angebliche Islamisierung der westlichen Welt und die Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Es sollte jedem kritisch denkenden Menschen klar sein, dass die Anhänger dieser Ideologie in Zukunft mit Hassverbrechen auf sich und ihre Ideologie aufmerksam machen werden, wodurch auch der Odinismus ins Visier der Behörden geraten dürfte, wenn er weiterhin mit dieser und ähnlichen Ideologien in Verbindung gebracht wird.

Während die große Mehrheit dieser «Bewegung» aus fundamentalistischen Christen besteht, sollen sich andere vermehrt dem Odinismus zuwenden [1], eine Sammelbezeichnung für die indigenen Traditionen Nordeuropas. So heißt es zum Beispiel auf einer amerikanischen Webseite: «Seit 2001 wurden Odinisten in sechs Fällen des inländischen Terrorismus verurteilt». Der Autor hinterfragt nicht den «Odinismus» der Täter noch scheint ihn der vermeintliche Zusammenhang zwischen Odinismus und Terrorismus zu irritieren. Der vernünftige Mensch guten Willens braucht nicht die Edda gelesen zu haben, um zu wissen, dass Rassismus, Ideologie und Nationalismus nicht zur nordischen Tradition gehörten, folglich auch nicht zu ihrer revitalisierten Form gehören können. Wenn es sich aber beim «Odinismus» dieser Leute nicht um die revitalisierte Form des Odinismus handelt, ist es kein Odinismus, sondern etwas anderes.

«Der Nationalismus ist eine moderne Bewegung», lesen wir in der Encyclopaedia Britannica. Das heißt, dass es, logisch betrachtet, keine gemeinsame Geschichte und daher auch keine Berührungspunkte zwischen Nationalismus und Odinismus geben kann. Tatsächlich ist der Nationalismus ein «Produkt» des Abendlandes und daher dem Europa der Ethnien fremd. Er setzt die Identität mit der Staatsbürgerschaft, die Ethnie mit dem Nationalstaat gleich. Doch können Ethnien nicht mit Nationalstaaten gleichgesetzt werden, denn sie stehen und fallen allein mit ihrem «Ethos». Und doch ist der Nationalismus insofern eine logische Entwicklung, da das christianisierte oder entfremdete Europa alle Voraussetzungen für seine Entstehung besaß: keine Ethnizität (ethnokulturelle Identität), keine Tradition und keine väterlichen Sitten mehr. Der Nationalismus entsprach den Bedürfnissen des frühen Kapitalismus nach homogenisierten Massen. Er ist sozusagen eine Homogenisierungsmaschinerie, welche die Bevölkerungsgruppen innerhalb der verschiedenen Nationalstaaten gleichschaltet und nach außen abgrenzt. In dieser Hinsicht kommt der Nationalismus ganz nach seinem «Vater», dem Monotheismus: er beseitigt die Ethnodiversität und wird dadurch zu einer Gefahr für die Ethnosphäre, deren Fundament die Vielfalt innerhalb und zwischen den Völkern und Kulturen ist. Damit stellen sich Monotheismus und Nationalismus gegen die Natur und kontrastieren auf diese Weise die ethnischen Religionen. Der Nationalismus ist bloß ein billiger Ersatz für Ethnizität und Tradition, und kann nur dort wachsen und gedeihen, wo es keine Ethnizität, keine Tradition und keine väterlichen Sitten gibt.

Die ethnischen Religionen Europas, zu denen auch der Odinismus zählt, sind eine Alternative zum Abendland und seinen politischen Vorstellungen und seinen ideologischen Abfallprodukten. Während das verlogene Argument der Islamisierung nur zur Rückkehr zu den vermeintlich «eigenen Wurzeln» (Christentum) animieren soll, ist die Revitalisierung der indigenen Traditionen Europas genau das: eine Rückkehr zu den Wurzeln. Zu einer solchen Rückkehr bedarf es keines Nationalismus, Faschismus oder irgend einer anderen Maske des politischen Monotheismus. Der politische Monotheismus mitsamt seinen Implikationen, seinen religiösen und säkularen Versionen ist Europa fremd. Es bleibt also schleierhaft, wie eine indigene europäische Religion und eine abendländische Ideologie zusammenpassen sollen. Dennoch wird dreist behauptet: «Der Odinismus eignet sich hervorragend für White Supremacists und Neonazis, die meinen, dass das Christentum, wie so viele andere Institutionen, von Außenseitern verdorben und durch Passivität geschwächt wurde.»[2] Das ist nichts weiter als eine infame Verleumdung einer Religion, die vom Christentum ausgelöscht, vom monotheistischen Nationalsozialismus geschändet, von monotheistischen Medien verleumdet und von einer monotheistischen Ideologie pervertiert wird, deren Anhänger anscheinend unbelesen sind und zwischen ihrer Ideologie und der historisch gewachsenen Religion einer immerhin anderen Kultur nicht unterscheiden können. Nein, der Odinismus «eignet sich hervorragend» für alle, die auf der Suche nach einer europäischen Alternative zum Abendland und zum Orient sind. Wer auch immer die Odinisten unter Generalverdacht stellt, sagt mehr über sich selbst aus und etwas darüber, wessen Geistes Kind er ist. Die Autoren solcher Texte wollen oder können einfach nicht begreifen, dass die White Supremacists verwirrte Mitglieder ihrer eigenen Kultur sind.

Denn was hier «Odinismus» heißt, ist eigentlich eine weitere Spielart des rechten «Neuheidentums» oder der Ariosophie, für die wohl das Gleiche gilt, was die keltische Religion dem «keltischen Neopaganismus» bescheinigt: «ein eklektischer Neopaganismus mit einigen aus dem Zusammenhang gerissenen keltischen Elementen.»[3] Der Odinismus ist etwas ganz anderes. Seine Weltanschauung und sein Wertesystem unterscheidet sich grundlegend vom Geist der Moderne und den Marvel-Comics. Er ist keine Ideologie, keine Bewegung, keine Partei. Wer das immer noch nicht begriffen hat, sollte den Begriff «Odinismus» am besten nicht in den Mund nehmen.

Der Odinismus war, ist und bleibt die Religion der Asengötter. Seine Weltanschauung gründet sich auf die Achtung vor dem natürlichen Gleichgewicht unserer Welt. Aus seinem Wertesystem spricht die Weisheit Odins und das Licht Balders. Deshalb wäre es nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig, dass der Odinismus eines Tages vollends rehabilitiert wird und seinen angemessenen Platz in einem demokratischen und vielgestaltigen Europa einnimmt.

 

 

1. KQED: White Supremacists Turn to the Ancient Religion of Odinism, 25.05.2017

2. Will Carless: An ancient Nordic religion is inspiring white supremacist jihad, in: revealnews, 25.05.2017

3. Kathryn P. NicDhàna, C. Lee Vermeers, Kym L. Dhoireann: The CR FAQ: An Introduction to Celtic Reconstructionist Paganism, S. 130, Leverett 2007.