R. L. Farnell: «Das hohe Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Familie als größte Errungenschaft der griechischen Religion», in: diipetes.ysee (Themenauswahl), zuletzt abgerufen am 21. Elaphebolion 2792 / 29. März 2016. Aus dem Griechischen ins Deutsche von Stilian Ariston Korovilas.
Der Polytheismus Griechenlands stellte alle Mittel für den Schutz eines jeden Aspekts des Familienlebens zur Verfügung. Keine andere Religion kümmerte sich mehr um die Sakralisierung der Familienpflichten, der Pflicht des Vaters gegenüber dem Sohn und des Sohnes gegenüber dem Vater, der Brüder gegenüber den Schwestern, des einen Verwandten gegenüber dem andren, aller, die sich rings um den Altar des Zeus «Herkeios» versammelten. Tatsächlich stellt die Verwirklichung dieses Zwecks vielleicht die primäre Aufgabe der griechischen Religion dar. Dieser gesamte Bereich untersteht restlos dem höchsten Gott, Zeus höchstpersönlich.
Erwähnenswert an dieser Stelle ist der Kontrast zwischen der alten Religion Griechenlands, welche ursprünglich den Glauben an konkrete Gottheiten mit unterschiedlichen Eigenschaften entwickelt hatte, und der eher unkonkreten römischen, welche mehr mit Numina und schattenhaften Mächten zu tun hatte. Die Familienethik Roms wurde hauptsächlich durch den religiösen Respekt gegenüber den Ahnengeistern in Schutz gestellt, deren Zorn der Sohn auf sich zog, der seinem Vater Schaden zufügte oder der Ehemann, der seiner Gattin Unrecht tat [1].
Dieselbe Idee finden wir in einigen Passagen der griechischen Literatur, beispielsweise in Platons «Gesetzen», wo die Sorge der Totengeister um die Erfüllung der Familienpflichten eindringlich vor Augen geführt wird.
Die ganze Ethik der griechischen Familie sammelt und konzentriert sich auf den Gott Zeus. Er ist der «Genethlios», Anführer der «häuslichen» Götter. Als «Patroos» wahrt er das Recht des Vaters und als «Omognios» schützt er das Band zwischen Brüdern und anderen engen Verwandten. Diese Namen sind keine leichtfertigen Titel, aus dichterischer Fantasie geboren, sondern Ausdruck der lebenswichtigen Überzeugungen des griechischen Kultes. Der ungerecht behandelte Verwandte, Vater, Sohn oder Cousin konnte den Gott mit diesen Namen anrufen und die Anrufung hätte die Macht eines Zaubers, fähig den göttlichen Zorn gegen den Unrechttuenden in Bewegung zu setzen. Tatsächlich sind diese Namen wahre Worte der Macht aus den Tiefen des religiösen Gefühls, welches dem alten Familiensystem Leben und Stärke verliehen hatte.
Zeus heißt nicht «Omognios», weil etwa geglaubt wurde, dass er mit der jeweiligen Familie verwandt sei. In den «Wolken» des Aristophanes nennt ihn Strepsiades «Patroos», als ihn sein Sohn beleidigt, nicht weil Zeus wirklich sein Vorfahre ist, sondern weil der ungerecht behandelte Verwandte oder Vater die Hilfe des Gottes benötigt, und um dessen Interesse zu wecken, verleiht er ihm die menschlichen Titel, welche die Beziehung, die missachtet wurde, definiert, damit die emotionale Verbindung zwischen ihm und dem Gott gefestigt wird.
Genau das verleiht vielen griechischen göttlichen Titeln ihre einzigartige Macht und durch ihr Studium entdecken wir die Bedeutung der Wahrnehmung des inneren religiösen Gefühls. Wir können nun den merkwürdigen Satz in den «Choephoren» des Aischylos verstehen [2], wo Orestes dem Zeus zur Anklage gegen die Mörder seines Vaters ruft: «καί πότ‘ άν αμφιθαλής Ζεύς επί χείρα βάλοι, φεύ φεύ, κάρανα δαϊξας;» («Wann mit vollstreckender Hand / Trifft sie denn vollbürtiger Zeus, um ihr Haupt / Weh! weh! zu spalten?»). Das Adjektiv «vollbürtig» (αμφιθαλής) wird nur in Attika für Kinder gebraucht, deren beide Elternteile am Leben sind. Zeus schützt die Rechte solcher Kinder und um die Beziehung des mit ihnen leidenden Gottes zu betonen, wird er selber als «vollbürtig» bezeichnet. Mit diesen Namen wird der Mächtige angerufen, Rache für das Kind zu nehmen, dessen Vater zu Unrecht getötet wurde [3].
1. siehe Wissowa, «Religion und Kultus der Römer», S. 187. Plutarchos, «Leben der Römer», 22
2. «Choephoren» des Aischylos, 394-396, übersetzt von Err. Hatzianesti
3. siehe meinen Aufsatz im «Classical Quartely», 1910, S. 186
R. L. Farnell
(aus seinem Buch «The higher aspects of Greek religion»)