Rezension des Buches »Hellenismos Today« (1. Auflage, Lulu Press, USA: Breinigsville 2007) von Timothy Jay Alexander.
»Hellenismos Today« ist eine Einführung in die hellenische Religion, wie sie von Hellenisten in den USA praktiziert wird. Das Buch ist als Leitfaden für die Ausübung der hellenischen Religion konzipiert, wobei Hellenismos Today eher die theoretischen Grundlagen bespricht. Das Buch hat ungefähr 140 Seiten, davon stammt aber nur die Hälfte von Alexander selbst. Der Rest besteht aus ausgewählten Auszügen aus Hesiods »Werke und Tage«, »Theogonie« und Kaiser Julians »Rede auf Helios«.
Der Autor ist selber amerikanischer Hellenist und steht dem Obersten Rat der ethnischen Hellenen (Y.S.E.E.) nahe, der im Buch oft zitiert wird, und hat durch seine Artikel und seiner Internetpräsenz dazu beigetragen, das Profil des Hellenismos nach außen zu schärfen.
Schon am Anfang des Buches weist er darauf hin, dass dieses Buch primär als Einführung und Leitfaden »für die respektvolle und hingebungsvolle Verehrung der antiken griechischen Götter« dienen soll (Seite 9). Alexander geht auf die religiöse Praxis der heutigen Hellenisten ein, macht aber auch Abstecher in die Antike, weil eine Abhandlung über die hellenische Religion ohne historische Bezüge auf die Antike nicht möglich sei. Deshalb ist dem antiken Hellenismos ein Kapitel gewidmet – was ich schade fand, schließlich soll es hier um den heutigen Hellenismos gehen. Genau hier findet sich das Grundproblem des Buches: der Hellenismos ist eine Religion, aber eben auch eine Kultur. Er ist Sprache, Musik, Tanz, Architektur, Geschichte, Institutionen, Literatur, Politik, Philosophie und Wertesystem der Hellenen. Aber Alexander konzentriert sich hier ausschließlich auf den religiösen Aspekt, wie ihn amerikanische Hellenisten verstehen und in ihrem Leben integrieren. Das ist natürlich nicht falsch, aber es könnte zu Missverständnissen führen, nämlich zu der Vorstellung, beim Hellenismos handele es sich um die Rekonstruktion einer alten Religion.
Das zweite Kapitel fängt mit einer Definition des Begriffs »Polytheistic Reconstructionsim« an. Damit wird eine Methode zur Wiederherstellung einer antiken kulturspezifischen Religion mit Hilfe archäologischer Befunde gemeint. Für solche Religionen ist das Studium primärer und wissenschaftlich sekundärer Quellen charakteristisch. Ihre Anhänger unterscheiden strikt zwischen persönlichen spirituellen Erfahrungen und historisch korrekten Gegebenheiten. Nachdem dies erklärt wurde, wird das Konzept des »soft/hard Polytheism« erläutert. Wie Alexander bemerkt, handelt es sich dabei um ein »neuheidnisches« Konzept – hat also in einem Buch über den heutigen Hellenismos nichts zu suchen, ist dieser doch mit dem »Neuheidentum« unvereinbar. Auf den Seiten 14-15 geht er auf die Unterschiede zwischen den »Neuheiden« und den Anhängern solcher Religionen, »Rekonstruktionisten« genannt, kurz ein.
Die Verwendung »neuheidnischer« Begrifflichkeiten war ein Fehler. Und zwar deshalb, weil dadurch ein falscher Eindruck entstehen könnte. Der sogenannte »Rekonstruktionismus« könnte als eine Strömung innerhalb des »Neuheidentums« aufgefasst werden, die sich im Gegensatz zum Mainstream-»Neuheidentum« an primäres Quellenmaterial orientiert. Doch der echte Unterschied zwischen den ethnischen Hellenen und den »Neuheiden« blieb unerwähnt. Während der Hellenismos eine indigene Kultur ist, ist das sog. »Neuheidentum« eine westliche religiöse Bewegung – keine ethnische Tradition -, die sich aus dem westlichen Okkultismus herausgebildet hat. Abgesehen davon weist diese Bewegung deutliche jüdisch-christliche Einflüsse auf. Die Begriffe »Re-Indigenisierung« und »Revitalisierung« tauchen leider nicht auf. Aber das hat sicher seine guten Gründe: Alexander hat eine pagane Vergangenheit, heißt: er fand über den Paganismus zur hellenischen Religion und wendet sich an ein Publikum, das den Hellenismos als Teil der pagan community begreift.
Den ethnischen Hellenen geht es primär um die Revitalisierung und Wahrung ihrer eigenen Kultur, zu der auch ihre Religion gehört. Begriffe wie »Rekonstruktionismus« oder Konzepte wie »weicher/harter Polytheismus« sind ihnen fast gänzlich unbekannt. Das alles wird im Buch mehr oder weniger gar nicht berücksichtigt.
Im dritten Kapitel widmet sich Alexander dem antiken Hellenismos. Er informiert, dass die hellenische Religion ihren Namen dem Kaiser Julian verdankt, der von vielen Hellenen und Hellenisten als Heros verehrt wird. Der Autor streift ganz kurz das Thema »Ursprung und Entwicklung« der hellenischen Religion, erwähnt die Vielfalt im antiken Hellenismos und verliert am Ende ein paar Worte zur Thematik des antiken Synkretismus, wobei er erklärt, wie sich dieser vom Eklektizismus der »Neuheiden« unterscheidet. Auch dieser Punkt zeigt: Alexander richtet sich an eine Leserschaft, die einen ähnlichen Hintergrund hat wie er selbst.
Im 4. Kapitel versucht der Autor die Leser zu motivieren, die griechische Mythologie zu studieren. Er bespricht das Wesen der griechischen Götter aus der Sichtweise der Hellenen und bemüht sich, ein grundlegendes Verständnis dafür zu vermitteln. Alexander erklärt, wie die Götter im Hellenismos wahrgenommen werden: nämlich als Wesenheiten, die in Einheit mit einer unpersönlichen und selbsttragenden göttlichen Macht existieren.
Auf Seite 22 zitiert Alexander den YSEE. Das Zitat zeichnet ein allgemeines, dafür aber korrektes Bild von den Gottheiten. Sie werden als wissende, unsterbliche und unpersönliche Wesenheiten beschrieben, die für die Regulierung der Welt zuständig sind und die sich am Prozess des Entstehens und Vergehens beteiligen. Zu ihren Haupteigenschaften zählen Wissen und Unsterblichkeit. Über die Götter hätte hier mehr gesagt werden können, ohne tiefer in die Materie einsteigen zu müssen. Zum Beispiel, dass sie unveränderlich sind, keine Bedürfnisse haben, keine Personen sind, kein Geschlecht haben usw. Das Grundlegende halt. Statt dessen beschäftigt sich der Autor erneut mit dem Konzept des »weichen Polytheismus«.
Auf Seite 23 nennt er die Hauptgötter des Hellenismos, das Dodekatheon, beim Namen: Diese sind ja den meisten Menschen bekannt. Es sind die Götter des Olymp: Zeus, Hera, Poseidon, Ares, Hermes, Hephaistos, Aphrodite, Athena, Apollon, Artemis, Demeter, Hestia.
Er erklärt, dass die Götter untereinander Gruppen bilden, wie die chthonischen Götter, die von Hades und Persephone »angeführt« werden. Außerdem verdeutlicht er die Komplexität der griechischen Götter anhand eines Beispiels. Was ich sehr gut fand, ist die Erwähnung der Heroen und der Daimonen, die meistens unerwähnt bleiben.
Die erste Seite des 5. Kapitels »Kosmologie« widmet sich dem Thema der Emanation. Ein Konzept, das oft missverstanden wird. Leider hat der Autor versäumt, es »richtigzustellen«, indem er auf das »Ausfließen« und das »Hervorgehen« (Próhodos) gar nicht eingegangen ist, was aber auf der anderen Seite verständlich ist, denn das würde den Rahmen des Buches sprengen. Abgesehen davon hat mir dieses Kapitel sehr gefallen, denn es thematisiert das eigentliche Charakteristikum der hellenischen Religion. Und das ist nicht ihr Polytheismus, sondern ihr Kosmotheismus.
Das Universum wird als eine wesenhafte Einheit gedacht, die aus sich selbst heraus entstanden ist. Der Mensch und alles, was existiert, ist, nach dieser Anschauung, ein organischer Teil dieser Einheit. Die Götter, so aus den Kundgebungen des YSEE zitiert, sind selbsttragende Mächte, keine Personen, die inmitten dieser Einheit existieren. Sie sind der mannigfaltige Ausdruck dieser Einheit, die dem Universum seine Ordnung gegeben haben.
Und genau das macht einen Gott aus im Hellenismos. Das griechische Wort für Gott ist »Theos« (Ordner) und stammt vom Verb »tithimi« ab, was soviel wie »ordnen« bedeutet. Nach Herodot (2.52) wurden die Götter so genannt, weil sie »allen Dingen Ordnung verliehen haben«. Ich fand es schade, dass das an dieser Stelle nicht erwähnt wurde.
Dieses Kapitel ist spannend und wichtig, weil der eigentliche Unterschied zwischen Polytheismus und Monotheismus angesprochen wird. Und ich schreibe vom »eigentlichen« Unterschied, weil nicht die Zahl der Götter das Entscheidende ist, sondern die Platzierung der »ersten Ursache«. Im Polytheismus ist dieses Prinzip innerhalb des Universums zu finden, im Monotheismus außerhalb davon. Während es im Monotheismus einen Schöpfer gibt, der das Universum aus dem Nichts geschaffen haben und sich außerhalb davon befinden soll, sind die Götter der meisten ethnischen Religionen aus dem selbstenstandenen Universum hervorgegangen, sind darüber hinaus Mächte, keine Personen. Ein Konzept, mit dem man sich erst anfreunden muss.
In Bezug auf die Werte des Hellenismos verweist Alexander auf die Maximen von Delphi, die Lehrsätze Solons, Aristoteles’ Ethiklehre, den Pythagoreismus, Stoizismus und Epikureismus. Er differenziert zwischen der hellenischen Ethik und den christlichen Geboten, führt aus, welche Bedeutung die Ethik im Leben eines heutigen Hellenen spielt, und nennt die drei Hauptprinzipien der hellenischen Religion: 1) Pietität, 2) Reziprozität und 3) Maßhalten. Tatsächlich gehört die Philosophie zum Wertesystem des Hellenismos, macht dieses aber nicht aus, zumal viele politische Werte sich nicht einzelnen Schulen der Philosophie zuordnen lassen.
Auf den Seiten 33 bis 36 stellt er dann die delphischen Leitsätze vor, bespricht danach die Rolle der Priesterschaft im Hellenismos, skizziert die Grundstruktur des hellenischen Rituals, stellt den attischen Kalender vor, gibt die griechischen Monatsnamen an und informiert, welcher Tag eines Monats welcher Gottheit geweiht ist. Zwischendurch werden auch andere Themen angesprochen, wie zum Beispiel das des Tieropfers.
Die zwei letzten Kapitel befassen sich mit Divination (55-57) und Magie (59-62). Im letzten Kapitel wird Mystik als eine Praxis definiert, die eine persönliche Kommunikation mit den Götter ermöglichen soll, und es wird klar gemacht, dass »Magie außerhalb der Religion existiert« (S. 59). Außerdem differenziert der Autor zwischen Mystik und Schamanismus einerseits und Magie andrerseits, und nennt ein Beispiel, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Zwar sind diese Informationen korrekt, allerdings reflektiert insbesondere das letzte Kapitel die angestrebte Aneignung des Hellenismos durch den angloamerikanischen Paganismus und den dadurch ausgelösten Konflikt zwischen Paganisten und Hellenisten in den USA.
Die Informationen im Buch sind sehr allgemein gehalten. Das Buch ist übersichtlich aufgebaut, die Sätze klar formuliert. Manchmal wiederholt sich der Autor oder bespricht Themen, die meines Erachtens mit dem Hellenismos nur bedingt etwas zu tun haben, doch trotzdem empfehle ich das Buch allen weiter, die sich für die hellenische Religion interessieren.
Inhalt / Kapitel:
Einleitung
Polytheistischer Rekonstruktionismus
Altgriechische Religion
Die Götter und Göttinnen
Kosmologie
Ethik
Die Rolle der Priesterschaft
Rituale und Übergangszeremonien
Feiertage und Feste
Divination
Magie und Mystik
Anhang I: Werke und Tage
Anhang II: Die Theogonie
Anhang III: Kaiser Julians Rede auf Helios
Buchempfehlungen
Über den Autor