Louise Bruit Zaidman / Pauline Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen

Rezension zu: Louise Bruit Zaidman / Pauline Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen, München: Beck, 1994.

Dieses Buch entspringt einer ungebrochenen französischen Tradition der Erforschung des Hellenentums. Wer über die Riten der Griechen lesen und die Bedeutung des Polytheismus verstehen möchte, ist mit diesem Buch sehr gut beraten. Die Autoren dringen tief in den Kult, seine Struktur, in die athenischen Übergangsriten und Kultgemeinschaften ein. Der Kult steht tatsächlich im Vordergrund. Wo dieser steht, ist der Mythos nicht weit; Zaidman und Pantel sind mit Dumezil, Levi-Strauss, Vernant, Detienne und Otto vertraut, daher überrascht uns ihr Verständnis für den Mythos nicht. Wer weiß, dass der Mythos ein Denksystem ist? Und wer weiß, dass er zur Religion gehörte, diese aber nicht ausmachte? Wenige.

Vertraut sind die beiden Autoren auch mit den Symbolen, Gottheiten und den Tempelbauten der Griechen, Skizzen im Text erweisen sich bei ihren Ausführungen als sehr hilfreich. Naos, Temenos, bomos sind dem Leser nicht fremd, wenn er die Lektüre beendet hat. Der Altar (bomos) steht im Mittelpunkt des Kultes; er steht in der Regel im Temenos, aber außerhalb des Tempels. Es ist strengstens verboten in den Tempeln niederzukommen, zu sterben oder Geschlechtsverkehr zu haben. In ihnen werden keine Tieropfer erbracht, lediglich Weihrauch den Unsterblichen gespendet, wenn überhaupt: denn die Tempel sind die “Häuser der Götter” und beherbergen in ihrem Abaton das heilige xóanon (Bildniss) der Gottheit. Nur zu ganz bestimmten Tagen wird das xánon unverhüllt in einer Prozession aus dem Tempel geführt. Der Abaton ist der heiligste Bereich des Tempels, zu dem keiner Zutritt hat. Ein weiteres Pluszeichen für das Buch: dem Leser wird die hellenische Pietät nahe gebracht. Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der hellenischen Seele.

Vorherrschend ist in der hellenischen Religion das lokale Moment. Man muss wissen, dass die hellenische Religion eine ethnische ist. Die hellenische Ethnie war inhomogen, so auch ihre Religion. Letztere ist allein die Summe der religiösen Riten und Meinungen der Griechen. Weil wir über die Religion der Athener mehr wissen, als über die Religion bei den Spartanern oder Kretern, steht diese hier im Vordergrund, jedoch bleibt auch genügend Raum für andere Gebiete Griechenlands.

Auch die Mysterien kommen vor. Oft als Alternativen zur Polis-Religion missverstanden, waren sie in Wahrheit eine Ergänzung. Sie eröffneten den Mysten einen zusätzlichen Weg zur Transzendenz, mehr nicht. Außer ein paar Andeutungen oder beifälligen Äußerungen, wissen wir sehr wenig über die internen Abläufe Bescheid. Darüber wurde ein Mantel des Schweigens gelegt, die Riten durften nicht nachgeahmt werden. Im letzten Kapitel zeigen die Autoren, auf welche Weise das abendländische Denkschema dem Verständnis der Mysterien in die Quere kommt und machen auf falsche Annahmen moderner Interpretationen aufmerksam, die in keinem Verhältnis zu den religiösen Anschauungen der Griechen stehen. In gewisser Weise rehabilitieren die Autoren die griechische Religion, denn sie wissen, dass Religion und Mythos nicht ein und dasselbe sind, aber auch die griechischen Götter, über die sie zu berichten wissen, dass sie keine Personen, sondern (ominöse) Mächte sind (S. 180).

Auch für die Kosmogonie, den Attischen Kalender und drei wichtigen hellenischen Übergangsriten haben die Zaidman und Pantel Raum gelassen. Sie gehören mit dazu, ohne sie bliebe das Bild unvollständig. Die älteste vollständig erhaltene Kosmogonie ist die des Hesiodos. Hesiodos lässt sich von der hellenischen Kultur nicht wegdenken, seine Werke sind für das Begreifen der hellenischen Seele von fundamentaler Bedeutung.

Der Attische Kalender ist der vollständigste überlieferte Kalender der alten Griechen. Die Namen der Monate und wichtigsten Feste sind festgehalten, allerdings verfolgen die Autoren die Materie nicht weiter, gehen viel zu schnell zum nächsten Punkt über. Auch zu den Festen wird wenig gesagt; der Leser ist auf weitere literarische Werke angewiesen, wenn er tiefer in die Materie einsteigen möchte.

Der interessanteste Teil dürfte jener über die Namensgebung, Hochzeit und Beerdigung sein. Ihre Symbolik wird entschlüsselt, Abläufe erklärt, ihre Bedeutung für die Gemeinschaft aufgezeigt. Götter und Heroen wurden nicht willkürlich angerufen, wie im Kosmos, übernehmen sie auch in den Institutionen der Menschen die verschiedensten Funktionen. Ihre Rolle und die Erwartung an sie im Rahmen einer Hochzeitszeremonie war sehr spezifisch. Das System dahinter ist ein Netzwerk aus Mythos, Weltanschauung, Brauchtum und Religion, ein zusammenhängendes Netzwerk wohlgemerkt.

Am Ende des Buches stehen ein kleines Lexikon über die Götter und Daimonen, und ein Glossar. Dort stehen die Bedeutungen der Begriffe Abaton, Adyton usw. Außerdem eine reiche Bibliographie, in Gruppen aufgeteilt, und die Quellenangaben zu den Skizzen und Bildern im Buch.

Dieses Buch ist beileibe keine Einführung in den Hellenismos; hier wagt sich der Leser in etwas tiefere Gewässer, doch kommt ihm der klare und ordentliche Sprachstil der Autoren zu Hilfe, und für weitere Fragen stehen das Lexikon und das Glossar zur Verfügung. Jeder, der dieses Buch liest, erfährt vieles und richtiges über die Religion der Griechen einerseits, aber auch, oder vor allem, über das Netzwerk von Mythos, Weltanschauung und Religion, und ihrer Interaktion mit dem politischen Leben in der griechischen Polis der klassischen Epoche. Daher empfehle ich “Die Religion der Griechen” uneingeschränkt weiter.

Ein großes Lob an den Verlag für die Publikation, das Layout und die hervorragende Übersetzung.