Philosophie als Lebenspraxis

Philosophie als Lebenspraxis

  1. Maimakterion 2792 / 20. November 2.015

von Stilian Ariston Korovilas

Die hellenische Philosophie ist eine praktische Philosophie, ihr Ziel: die Arete. Die Erlangung der Arete ist nur durch die Praxis zu bewerkstelligen. Doch weit mehr als ein Weg zur Arete, ist die Philosophie auch Seelenheilkunde und Hilfe bei der Bewältigung des Lebens. Die (hellenische) Philosophie ist ein integrales Element der hellenischen Kultur. Sie ist der Überbau unseres Wertesystems. Weit davon entfernt, sich in abstrakten Gedankengängen zu vergehen, tröstet sie die Verfolgten und richtet die Selbstachtung des gedemütigten Menschen wieder auf.

Spätestens seit Plethon ist die Philosophie der definitive Weg zur Angleichung an die Götter (ὁμοίωσις θεῷ). Von allen Schulen sind es die Akademie und die Stoa, welche das Hellenentum am meisten beeinflussen. Sie durchdringen das tägliche Verhalten und schlagen sich im Wertesystem unsrer Ethnie nieder. Wer das Enchiridion des Epiktetos liest, wird über die Zeitlosigkeit seiner Hinweise und Ratschläge erstaunt sein. Über die Zeit haben wir Hellenen das schmale Handbüchlein zu schätzen gelernt; es atmet aristokratische Würde.

Philosophie, die hellenische zumindest, ist für die Praxis bestimmt. Viele Nicht-Hellenen schrecken vor diesem Begriff zurück, trauen sich nicht an die Materie ran, weil ihnen Philosophie als hochabstraktes Ideenspiel für Professoren und Doktoren vorgelebt wird. Doch ist die Philosophie leichter zu verstehen, als „man“ gewöhnlich meint. Auf der anderen Seite wird die Philosophie missverstanden und belächelt; zwar sei sie ein netter Zeitvertreib, tauge aber nicht für das „richtigen Leben“, dabei ist sie eine Unterweisung ins richtige Leben. Ich erinnere mich daran, diesen Satz in meiner Schulzeit aus dem Mund eines Lehrers gehört zu haben. Wie falsch er doch lag. Philosophen sind keine Tagträumer oder Ideologen gewesen; viele von ihnen waren Krieger, Staatsmänner, Kaiser, Lehrer, Ärzte, Sklaven, andere haben den Geist einer gesamten verfolgten Kultur in Zeiten der Verfolgung und Unterdrückung am Leben erhalten. Sie waren in der Astronomie, Navigation, in der Mathematik und Biologie versiert. Um wie viel ärmer die Völker ohne die Philosophen wären, wollen wir eigentlich gar nicht wissen.

Gerechtigkeit – Besonnenheit – Tapferkeit – Weisheit

Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit – das sind die vier hellenischen Kardinaltugenden. Richten wir unser Leben danach aus, gewinnen wir an innerer Stärke, Souveränität und Würde. Aus einem solchen Leben erwächst Stolz und Unbeugsamkeit, Tugenden, die vor allem in unseren vulgären Tagen vonnöten sind, um menschlich zu bleiben.

Philosophie ist insbesondere bei der Bewältigung von psychodynamischen Konflikten und Phobien von Nutzen, denn sie schult den vernünftigen Seelenteil und entschärft den Ausbruch unbewusster Inhalte, die das „Ich“ überwältigen. Philosophie beschäftigt sich nicht nur mit existenziellen Problemen, sondern vor allem auch mit Fragen des Alltags. Wie soll ich mich verhalten? Welches Verhalten ist in dieser Situation angemessen? Was soll ich antworten? Was ist richtig und was falsch? Wie soll ich leben? – das sind Fragen, auf die die Philosophie seit Jahrtausenden antwortet.

Ihre Ausübung ist unentbehrlich für die Veredlung des Charakters und somit auch für die Angleichung an die Götter. Denn die Aretai (Tugenden) sind nichts weiter, als die Übersetzung der göttlichen Eigenschaften ins Menschliche; die Übertragung der olympischen Zustände auf ein menschliches Maß, freilich ist Letzteres kulturbedingt, obwohl einige Beschränkungen für alle Menschen gelten (Verwundbarkeit, Krankheit, Tod u.a.). Epikuros, für den der Olymp Sinnbild der εὐδαιμονία (Glückseligkeit) gewesen ist, erreichte das Glück, indem er nach der Art der glückseligen Götter lebte, ihre Eigenschaften ins Menschliche übersetzte und anschließend übernahm. Was sind das für Eigenschaften? Die wesentlichen Merkmal der Olympier sind: Bedürfnislosigkeit, Leichtigkeit, Glückseligkeit. Für Epikuros bedeutete dies die Stillung der elementaren Bedürfnisse (Nahrung, Wasser, Kleidung) – er tat es ihnen nach, um glückselig zu sein. Doch alle Schulen stimmen darüber ein, dass ein solches Leben Maßhalten bedingt. Denn, was in kleiner Menge uns Freude bereitet, kann im Übermaß Krankheit schaffen und die Freude am Dasein schmälern.

Ist die Tugend einmal in einem verwirklicht, kann sie dem Menschen nie abhandenkommen, selbst die Gewalt kaiserlicher Heere kann sie uns dann nicht entziehen. Sie bewässert unseren inneren Garten und befreundet die Seele mit den Unveränderlichen. Daher ist die Rückkehr der Philosophie ins alltägliche Geschehen für uns Hellenen von äußerster Wichtigkeit. Sie gehört nicht in die hintersten Bücherregale der Büchereien, sondern in die Agora, mitten ins Leben, wo sie ihren Nutzen für alle fühlenden Wesen entfalten kann, weil sie auch unsere Beziehungen zu den anderen Tieren, der Pflanzen- und Mineralwelt, unsren Umgang mit der Erde insgesamt verwandelt. In diesem Sinne erweist sich die Philosophie als eine länger andauernde Verhaltenstherapie, denn sie heilt die Disharmonie, aus der alles kranke Verhalten resultiert.

Philosophie ist Lebensweise. Wenn sich zu der Erkenntnistheorie nicht die Praxis gesellt, ist die Philosophie eine fruchtlose Angelegenheit, allenfalls dazu geeignet, das rhetorische Vermögen und die Argumentation zu trainieren. Doch nimmt die Philosophie nicht in Akademien ihren Lauf ins Leben, sondern in der Warteschlange im Supermarkt, beim Tellerwaschen und Einkaufen. Philosophie erwerben wir nicht durch die Teilnahme an Seminaren, Masterarbeiten oder Verleihung von Doktorwürden, sondern durch ein entsprechendes Handeln und Denken im Alltag. Dann ist Philosophie lebendig, berührt die Leben von Menschen und erhöht das kulturelle Niveau, das in unseren Tagen einen massiven Niedergang erlebt.

Wenn die Philosophie zu einer Akademikerangelegenheit wird, ist sie tot.

Die 12 hellenischen Philosophieschulen