Die Weltanschauung des Polytheismus

Vlassis G. Rassias: »Die Weltanschauung des Polytheismus«, in: Rassias (Startseite: Texts and Interviews Translated into German), zuletzt abgerufen am 11. Gamelion 2791. Interview mit der griechischen Zeitschrift »Anichnefsis«, Ausg. Januar-Februar »1998«. Ins Deutsche von Simon Zavrakidis. Von Stilian Ariston Korovilas korrigiert.

VLASSIS RASSIAS WORDPRESS
© Vlassis G. Rassias

FRAGE: Wir beobachten die Tendenz, dass viele Kreise den Begriff „Hellene“ im Zusammenhang mit bestimmten Weltanschauungen definieren. Diese Definitionen verursachen natürlich neue Auseinandersetzungen, welche die Fortsetzung eines uralten Kampfes sind. Wie kann Ihrer Meinung nach heute jemand in seinen religiösen Überzeugungen Hellene sein?

RASSIAS: Seinen Überzeugungen hinsichtlich des Göttlichen ein Hellene sein, bedeutet, seinen Überzeugungen hinsichtlich des Kosmos ein Hellene zu sein. Denn in der griechischen Weltanschauung deckt sich der Kosmos mit dem Göttlichen. Der Kosmos ist alles, der Kosmos existiert vor allen anderen, ist ewig und unendlich[1]. In der griechischen Weltanschauung sind die Götter natürliche Mächte, natürliche Energien und bisweilen auch Ideen. An einem bestimmten Punkt in der Entwicklung der griechischen Kultur entstand die Anschauung, dass die Götter im Kosmos geboren und im Rahmen seiner Prozesse wirken, um seine Fortdauer und Entwicklung zu gewährleisten. Oberstes Prinzip [griech.: Arché, Ursache] aller bildet ein Gesetz, eine Notwendigkeit, die der Sicherstellung der Ewigkeit des Kosmos vorbehalten ist. Das ist die Grundlage der polytheistischen Weltanschauung[2]. Auf der anderen Seite denken die Monotheisten einen Anfang in den Kosmos hinein. Das heißt, für sie gibt es einen außerkosmischen Gott, der vor allen anderen existiert, ein Gott, der vor dem Kosmos existiert hat, der ewig und unendlich ist; und zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt erschafft dieser außerkosmische Gott das All, den Kosmos aus dem Nichts heraus. Er erschafft durch seinen Logos (Wort) oder durch irgendeine andere Methode den Kosmos, der daher nicht ewig ist, denn ewig ist nur der außerkosmische Schöpfergott. Der Kosmos ist somit eine Schöpfung, die, weil sie einen Anfang kennt, logischerweise dazu verurteilt ist, auch ein Ende zu haben. Diese zwei Weltanschauungen sind von essentieller Bedeutung für das Verständnis von sich und der Welt. Auf diesen beiden basieren alle anderen Weltanschauungen.
Wenn wir alle Weltanschauungen untersuchten, alle Theorien, die es gibt und geben wird, würden wir feststellen, dass sie alle auf eine der beiden zurückgeführt werden könnten, entweder auf die polytheistische oder die monotheistische Weltanschauung. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen besteht nicht, wie der Affix Mono- und Poly- impliziert, in der Anzahl der Götter, sondern ob Gott innerhalb oder außerhalb des Kosmos angesetzt wird. Ob der Kosmos eine Schöpfung oder ewig ist. Auf diesen Grund werden ganze Weltanschauungen, Kosmogonien, Ethnogonien und Genealogien aufgebaut. Ich kenne ein Schema, durch welches sich diese Anschauungen bildlich darstellen lassen. Dieses Schema demonstriert, wie die eine oder andere Weltanschauung sich später zu Institutionen, Verhaltensweisen und Lebensweisen entwickelt.
Es gibt eine Kugel, die in zwei Halbkugeln geteilt wird (sodass man nicht von der einen zur anderen hinübergleiten kann). Wenn wir diese Kugel als den Kosmos nehmen, blicken wir nur aus der Perspektive einer dieser Halbkugeln
auf ihn, nicht beider. Man kann sich an die Schnittpunkte begeben und die andere Halbkugel betrachten, aber immer nur aus der jeweils eigenen Perspektive. Wenn sich zwei an der Grenze gegenüberstehen, können sie zwar einen ähnlichen Ausblick haben, hören jedoch nicht auf, sich auf weiterhin auf ihrer Halbkugel zu befinden, will heißen: der Monotheist wird immer Monotheist bleiben, und das Gleiche gilt auch für den Polytheisten. Entsprechend der Sichtweise auf die Welt, werden die Institutionen des täglichen Lebens gebildet, welche ihrerseits Verhaltensweisen, Kulturen bilden, eben das, was wir Mensch nennen. Wir könnten zum Beispiel sagen, dass die Art und Weise, wie ein Mono- oder Polytheist den Kosmos sieht, den Blick des Erdenmenschen auf den Mond aus Sicht der Erde gleicht. Der Mond zeigt uns immer dasselbe Gesicht. Es ist wesentlich, zu betonen, dass es den Menschen unmöglich ist, auf beiden Halbkugeln zu stehen, denn mit den gleichen Augen kann man nicht in zwei entgegengesetzte Richtungen schauen. Die altgriechische Welt gehört zur sogenannten polytheistischen Welt, der Welt der Ethnien, der sogenannten Welt der Ethniker. Das sind gewachsene Gemeinschaften und Kulturen, die auf der Grundlage ihres polytheistischen Weltverständnisses Weltanschauungen, Religionen, Institutionen, Philosophien, Ansichten, Wissenschaften, kurzum: alles Menschliche hervorbrachten. Auf der anderen Seite steht die monotheistische Welt des Judentums, Christentums und des später hinzugekommenen Islams, und alles, was diese in Zukunft hervorbringen werden. Auch sie haben eine bestimmte Weltanschauung, welche ihrerseits ebenfalls Institutionen, Philosophien, Anschauungen etc. auf Grundlage natürlich ihrer Weltsicht hervorbrachte.

FRAGE: Inwieweit glauben Sie, beeinflusst die jeweilige Weltanschauung die Menschen? Wie beeinflusst sie ihr tägliches Privatleben?

RASSIAS: Das ist eine sehr gute Frage. Wir sagten bereits, dass der Einfluss einen entscheidenden Charakter hat. Nun wollen wir ein Blick auf das Wie werfen. Angesichts der Tatsache, dass Kosmos und Gott existieren, ob wir dies nun anerkennen oder nicht, bleibt zu untersuchen, wie wir die Idee von Gott in unseren Köpfen bilden und nach außen auf andere Menschen projizieren, wie Theologie entsteht und was aus ihr hervorgeht. Die Inhalte unseres Geistes und die von uns wahrgenommene Umwelt, die wir auf den Himmel übertragen, werden von uns wieder introjiziert. Auf diese Weise wird eine Beziehung aufgebaut, eine Beziehung der Projektion und Wiederintrojektion, die unmittelbar von der Projektion abhängt, welche wir wieder absorbieren und verarbeiten. Die polytheistische Weltanschauung kennzeichnet bestimmte, in aller Regel unabhängige Gemeinschaften, deren Ansichten das Ergebnis einer Tradition sind, die sich im Laufe der Jahrhunderte bildete, ohne ältere Traditionen abzuschaffen. Es gibt eine stetige Weiterentwicklung, deshalb entsteht etwas Neues, und was sich neu bildet – nicht nur in der Religion, sondern auch in der Philosophie und im Sittentum – ist Ergebnis des gesamten Lebensverlaufes der jeweiligen Ethnie und ihres Schaffens im Laufe der Jahrhunderte. Nichts wird weggeworfen, sondern bloß modifiziert. Alte Institutionen werden aufgegeben, wenn sie sich als entbehrlich erweisen und zwischenzeitlich bessere geschaffen wurden. Es werden auch neue eingeführt, aber was momentan gegeben ist und einer bestimmten Gesellschaft Ausdruck verleiht, ist ihr eigenes Erzeugnis und ihr zurecht übergeordnet. Wir sehen also, dass die polytheistischen Gemeinschaften als selbstbestimmte Gesellschaften diese Souveränität auch auf den Himmel projizieren. Ich beziehe mich damit nicht auf andere polytheistische Gemeinschaften wie den asiatisch-animistischen, den afrikanischen usw., sondern auf die uns betreffende, heißt europäische polytheistische Tradition und hauptsächlich, was uns anbelangt, die griechische Tradition.

FRAGE: Und wie können wir feststellen, wie diese griechische Tradition und Weltanschauung angefangen hat?

RASSIAS: Der Himmel ist in der griechischen Tradition (zumindest in der klassischen) das Produkt einer „nach oben“ gerichteten Projektion der gesellschaftlichen und politischen Struktur der homerischen Welt. Das heißt: es gibt einen Herrscher, der von anderen gleichwertigen Herrschern umgeben ist, die nicht als Diener oder Untertanen, sondern als Gleichberechtigte zum Zweck der Erbringung eines ruhmreichen Dienstes sich um ihn scharren. Gleichzeitig existiert die Institution der Boule [Ratsversammlung]. Die Institution der Ratsversammlung ist sehr alt in Griechenland, wir begegnen ihr auf Poliochni und Lesbos des 3. und 2. Jahrtausends! Das Modell, welches wir in den homerischen Epen sehen – die Anführer der Achäer, die sich um Agamemnon formieren und ihm gleichwertig sind, obschon dieser als Erster unter Gleichen anerkannt ist – wird in den Himmel projiziert und damit die Weltanschauung des olympischen Pantheons begründet. Im olympischen Pantheon gibt es eine Vielzahl von Göttern, wir könnten im Grunde sagen, es gibt Tausende davon, denn die Zahl 12 ist rein symbolischer Natur: sie will sagen, dass das Göttliche die kosmische Sphäre mit seinen zwölf Manifestationen (ekdeiloseis) erfüllt [3], ein auf dem Dodekaeder basierendes Prinzip, welches der Kugel am nächsten kommt und sie am besten ausfüllt. Die Zahl 12 ist ein Symbol; 12 Fünfecke, will heißen bestimmte Kräfte, Prinzipien (er)füllen die Sphären des Kosmos. Die zwölf Götter des olympischen Pantheons sind nicht immer dieselben, ein Mal tritt Poseidon hinzu, ein anderes Mal Ares oder Demetra, aber die Zahl 12 bleibt konstant. Charakteristisch ist, dass der Gott Hermes die Opfersitte einführt: er opfert zwölf Bullen aus der Herde der Götter an die Götter. Im Grunde befindet er sich dann außerhalb des Kreises der 12 Olympier, aber auch innerhalb. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Zahl 12 bereits vorher existierte.
Die Griechen projizierten also das Bild von ihrem täglichen Leben, wie es gesellschaftlich und politisch geregelt war, in den Himmel, um es dann mit neuen Ideen und Herausforderungen, die ihnen halfen ihre Institutionen weiter zu entwickeln, zu introjizieren. „Wie oben so auch unten“. Unsere Vorstellungen vom Himmel können wir in unserem täglichen Leben verwirklichen. Natürlich ist es kein Zufall, dass dieser Gedanke zuerst in Griechenland gedacht wurde, denn in Griechenland gab es eine konkrete Weltanschauung, welche ihrerseits gerade deshalb entwickelt wurde, weil es diese spezifische Gesellschaft mit diesem spezifischen Menschentyp gab. Eine entsprechende Theologie finden wir auch in Ägypten, aber dort sind die Bedingungen unfrei (Pharao-Dynastien) und zur Theokratie verkommen. Aber hier in Griechenland baute diese konkrete Gesellschaft, die freie Menschen formte, auch im Himmel eine solche auf, und führte
dann diesen wieder bei sich selbst ein, einschließlich der entsprechenden „himmlischen“ Institutionen. Es gibt, wie wir sehen, eine gegenseitige Ergänzung und Entwicklung.

FRAGE: Und was ist mit der „anderen Seite“? Können wir die auch mit der gleichen Methode analysieren?

RASSIAS: Auf der anderen Seite, der monotheistischen, gibt es einen außerkosmischen Gott, der die Welt aus dem Nichts erschafft; eine Vorstellung, die sowohl wissenschaftlich wie physisch unhaltbar ist, denn nichts kann aus dem Nichts geschaffen werden. Nichtsdestotrotz handelt es sich hierbei um die herrschende Weltanschauung, auch wenn die Wissenschaft bewiesen hat, dass nichts aus dem Nichts entstehen kann. Die Natur beweist uns das jeden Tag aufs Neue demonstriert, was noch wichtiger ist. Aber entsprechend dieser Weltanschauung wird eine „Schöpfung“ kreirt, welche vergänglich ist und deshalb zerstört werden kann. Aber auch wenn dem nicht so wäre, hätte sie sowieso ein Verfallsdatum. Diese Anschauung stuft die Welt auf eine sterbliche Schöpfung vulgärer Substanz herab, entgöttlicht die Welt ganz und gar und führte zu bestimmten unangenehmen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte, sogar zur Spaltung der menschlichen Vorstellungen, zu rein „dualistischen“ Auffassungen, Trennungen von Geist und Materie in eine „vulgäre“ Materie und einen „guten“ Geist. Diese Weltanschauung setzt die Existenz eines außerkosmischen Gottes voraus, der überhaupt keinem Gesetz untersteht, außer sich. Er selbst ist also die Quelle aller Gesetze […] und hat das Recht, autoritär und willkürlich zu handeln. Es gibt kein Gesetz, das diesen Gott einschränken könnte; er befiehlt, er erschafft, ist daher ein Gott, der dem Absolutismus Ausdruck verleiht, der, wenn er möchte, nach eigenem Gutdünken agieren kann, sogar zügellos. Der Kosmos ist dabei nichts anderes als ein Objekt, welches bloß seinem Willen und seinen Wünschen untersteht. Das ist verdächtig (zumal die monotheistischen Religionen von Individuen gegründet wurden), weil damit eine monarchistische Auffassung von den Verhältnissen im Himmel entwickelt wird, die dann in gleicher Weise auch hier unten realisiert werden können.

FRAGE: Trotz alldem handelt es sich um eine Theologie. Welchen Schaden kann diese Theologie anrichten?

RASSIAS: Diese Theologie wird in der schon erwähnten Weise auf den Himmel projiziert, dann als Idee und Institution wieder introjiziert, wodurch entsprechende politische und gesellschaftliche Meinungen gebildet werden. Das ist eine ernste Sache. Man kann sich nicht gleichzeitig absolutistische Monarchien im Himmel vorstellen und selbstbestimmte, demokratische Gesellschaften auf der Erde aufbauen. Es ist kein Zufall, dass die Menschheit, zumindest ihr christianisierter Teil, es nicht geschafft hat, auf dieser Grundlage Menschen, Verhaltensweisen entsprechend denen der Griechen hervorzubringen. Auch wenn sie es in manchen klaren Momenten ihrer Geschichte wiederholt versucht hat, immer fehlte etwas und sie fiel in ihr altes Fehlverhalten zurück. Was gefehlt hat, ist die griechische Weltanschauung, das heißt: die polytheistische Tradition mit ihren vom Volkswillen gelenkten Institutionen und ihrer Strukturierung der Gemeinschaft durch Regeln demokratischer Gleichheit und Freiheit. Ich denke, der moderne Grieche würde sehr vieles begreifen können, wenn er den stetigen Kampf zwischen diesen zwei Weltanschauungen untersuchen würde.

Eckige Klammern […] von Simon Zavrakidis zum besseren Verständnis hinzugefügt.

1. hat also keine festen Grenzen angenommen.

2. Kosmotheismus.

3. Vervielfältigungen des HEN.