Welche Demokratie denn bitte?

Vlassis G. Rassias: »Welche… Demokratie?«, in: Rassias (Startseite: Texts and Interviews Translated into German), zuletzt abgerufen am 6. Gamelion 2791. Veröffentlicht in der Zeitschrift Diipetes, Nr. 35, Mai »2000«, übersetzt von Simon Zavrakidis. Von St. Ariston korrigiert.

du bist dieselbe Demokratie, unumsorgt und bös´ gealtert, dreckig und in Lumpen, die dir nicht ziemen.“
(Paraprhase Homers Odyssee, Omega 249-250)

Zwei der charakteristischsten Eigenschaften dieser metahellenischen [christlichen] Welt, in der die Menschheit seit 16 Jahrhunderten lebt, sind die außerordentliche Unklarheit und die große Virtuosität im Fälschen. 

Außerdem setzt der Ursprung dieser bestimmten „Kultur“, die nun vorherrschend ist, so etwas zwingend voraus. Denn sich unverständlich oder ungenau auszudrücken, aber auch Ereignisse und Bedeutungen zu (ver)fälschen, ist eine sehr schlaue Methode, um eine unerwünschte Wahrheit zu verschleiern. Alexander E. Rauter stellte bereits in den 1960er Jahren fest, dass je „unklarer einer schreibt oder spricht, umso länger bleibt das Falsche verborgen, das in seiner Aussage steckt.“ (Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht: Über das Herstellen von Untertanen, München 1971).

Die alten, ungetauften und echten Griechen, unsere Vorfahren, bemühten sich sehr um eine genaue Ausdrucksweise, deshalb erreichte bei ihnen der menschliche Verstand seinen historischen Höchststand. Jedes Wort hatte eine ganz bestimmte Bedeutung, und nicht x ist ungefähr gleich y. Schon seit der homerischen Zeit finden wir bei ihnen zwölf (!) verschiedene Verben für „sehen“, konkret: blépein/βλέπειν (blicken, ansehen), theoreín/θεωρεῖν (beobachten, erblicken, erschauen), eideín/ειδείν (sehen), orán/ὁρᾶν (erfassen, [auf]schauen), leússein/λεύσσειν (wachen Auges etwas beobachten, den Blick gleiten lassen), athreín/ἀθρεῖν ([sorgfältig] betrachten, erblicken), theásthai/θεᾶσθαι (staunend [an]starren oder sehen), sképtesthai/σκέπτεσθαι (hinschauen, genau hinsehen, ausspähen), óssesthai/όσσεσθαι (wachen, ausblicken), dendíllein/δενδίλλειν (auf jmd. hinsehen, anschauen), dérkesthai/δέρκεσθαι (stechend blicken, scharfäugig, ausdrucksvoll blicken) und paptaínein/παπταίνειν (sich umschauen, umsehen, überblicken, nach etwas blicken), jedes Verb eine Bezeichnung für eine andere Art des Schauens.

Hier wird also klar, dass alle, die gegen diese Kultur der Unklarheit und (Ver)Fälschung kämpfen wollen, zuerst und vor allem den authentischen Sinn der Wörter und Begriffe verteidigen und wiederherstellen müssen. Andernfalls werden wir uns ständig schwitzend und blutend im Kreis drehen und nichts weiter als eine unendliche Reihe unbrauchbarer Dinge reproduzieren, wie diejenigen, die vergeblich mit dem Wort „Genosse“ im Mund gekämpft haben, völlig unwissend über die wirkliche Bedeutung dieses Wortes, welches auch das am meisten missverstandene Wort des 20. Jahrhunderts gewesen und vom gleichen Schicksal ereilt worden war, wie das am meisten missverstandene Wort der letzten zweitausend Jahre: Gott.

Zum Ende des 18. Jahrhunderts und mit den für die menschliche Freiheit sehr nützlichen Guillotinen der Jakobiner kam der altgriechische Terminus „Demokratie“ wieder auf; diesem gelang es innerhalb von nur zwei Jahrhunderten – zwar nicht im Sinne der echten Demokratie, aber – in der Form einer Parodie namens „Parlamentarismus“ die ganze Menschheit  einzuholen. Heute sind alle „Demokraten“ oder sie inszensieren sich als solche; der ganze Planet wird überflutet von indirekten „Demokratien“ aller Art: bürgerparlamentarisch, königlich, militärgefangen, fernsehgefangen, faschistisch und so weiter, nur um den Sinn der Wörter weiter zu verdrehen und sie unbrauchbar zu machen.

Doch was ist die Demokratie? Jenseits aller Behauptungen der modernen Betrüger und Begriffsfälscher (und davon gibt es Milliarden) bedeutet dieser Terminus, den die hohe Kunst der genauen Ausdrucksweise der polytheistischen, echten Griechen der Antike hervorgebracht hat, Herrschaft des Demos [Gemeinde, Volk], das heißt unmittelbare Verwaltung der politischen Geschehnisse durch den regulierten Körper der aktiven Bürger. Diese Auslegung bringt jedoch Probleme mit sich, denn sie führt zwei notwendige, jedoch der modernen Pseudo-„Demokratie“ völlig fremde Elemente ein, das heißt: erstens die Unmittelbarkeit (unmittelbare Demokratie) und zweitens die politische Autodynamik (Tat aus eigenem Antrieb).

Für unsere Vorfahren, die echten, ungetauften Griechen war die Demokratie die höchste Stufe der politischen Kunst, also der Verwaltung der Angelegenheiten der Vaterland- bzw. Mutterland-„Polis“, die jedoch nicht magisch definiert wurde, sondern logisch, greifbar, fühlbar und daher völlig verständlich war. Die Vaterland- bzw. Mutterland-„Polis“ (von der auch das Wort „Politik“ stammt) konnte erfasst und definiert werden. Sie war die Summe der ererbten Erde, beseelt durch die geistgewordene Asche der verstorbenen Vorfahren und durch die Anwesenheit der Volks- und Familiengötter.

Jedoch war die Polis war nicht nur ihre Erde und ihre Häuser, wie die römische Urbs. Die Existenz des Demos (ΔΗΜΟΣ) erhöhte zusätzlich die Attraktivität des Terminus, will heißen: das Teilen sowohl der Verpflichtungen wie auch der Rechte durch (Selbst-)Institutionen verband die Bürger zu einem kompakten politischen Körper. Bei den echten Griechen gab es nicht das heutige Phänomen der Gegnerschaft zwischen Privatem und Politischem, also dem persönlichen und gemeinschaftlichen Bewusstsein. Für die Griechen war die Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Angelegenheiten oder die Meidung klarer Stellungnahmen unvorstellbar, gerade in den besonders umstrittenen Fällen.

Diese Teilnahme, dieses Teilen, das die Existenz des Demos [Gemeinde] voraussetzte, gebar sehr schnell eine wunderbare Eigenschaft des hellenischen Menschen. Diese Eigenschaft heißt Parrhesia [Freimut, Offenheit]. Die Parrhesia, abgeleitet von pas (alle, jeder) und rhesis (Ausspruch), ist nichts anderes als die Verpflichtung aller freien Menschen, unbedingt – ungeachtet aller Konsequenzen – ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie dabei ihre eigene Sicherheit riskieren. Es ist überhaupt kein Zufall, dass das Wort „Parrhesia“ ganz verschwand, nachdem die politischen Institutionen der Griechen von den christianisierten Römern (unrichtigerweise „Byzantiner“ genannt) zerstört wurden, z.B. mit der Auflösung der letzen Boule (Ratsversammlung) der griechischen Städte durch Kaiser Jutprada (Justinian), und seitdem nur selten, und nur in der Moderne, wieder in seiner Größe und wahren Bedeutung aufgetaucht ist.

Dieses Etwas, das die griechische Selbstverwaltung zerstörte, hat natürlich einen Namen und eine Ideologie. Was den Verfasser jedoch hier interessiert, ist bloß die Aufzählung der Ansprüche, die „dieses Etwas“ an den Menschen stellt. Auf persönlicher Ebene: Privatisierung und Zurückgezogenheit [Vereinsamung] und auf politischer [kollektiver] Ebene, wenn dies überhaupt politisch genannt werden kann, die Herrschaft des Schreckens [der Angst] und die Zügellosigkeit der Theokraten, dieser Feinde des menschlichen Geistes, der Verschwörer und Beischläfer von Eunuchen. Übelriechende Phänomene, die, geändert und angepasst, im allgemeinen Verfall und korrupten System des globalen Jerusalem, das die Welt regiert, bis heute überlebt haben. An die Stelle der Parrhessia der Griechen trat der christliche Gegenentwurf für die Vergangenheit, Gegenwart, aber auch für unsere Zukunft: die Unterwürfigkeit, Verschleierung und Gleichmacherei nach unten.

Die Welt der ethnischen Hellenen der Antike entwickelte und huldigte, wenn nicht die ersten, dann doch die perfektesten politischen, selbstbestimmten Gesellschaften, die sich auf diesem Planeten gezeigt haben. Diese Welt lebte innerhalb von Gesellschaften, innerhalb derer auf wundersame Art, sich die persönlichen und gemeinschaftlichen Interessen absolut deckten. Sie lebte innerhalb von Gesellschaften, die den Begriff „Freiheit“ nicht als eine Ansammlung persönlicher Rechte verstanden, um sich entweder gegen eine vom Volk abgehobene Regierung oder gegen die eigenen Mituntertanen zur Wehr zu setzen [abgeleitet von: dem Staat (an)gehören; griech. ypíkoos, abgeleitet vom Verb gehorchen], sondern Freiheit bedeutete das Recht des aktiven Bürgers, sein tägliches Leben würdevoll und selbstbestimmt zu gestalten.

All das, also die Demokratie, war für die Christen nichts anderes als eine „Staatsform des Teufels“ (Eusebios von Kaisareia: Civitas diaboli). Deren Gegenmodell war eine viele Jahrhunderte bestehende herzlose, autoritäre Theokratie, bestehend aus einer Monarchie sowie der Kirche, über eine geistig und politisch gesichtslose Masse aus gedemütigten Untertanen. In der Boulephora Agora (Meinungsbildendes Forum) der polytheistischen Griechen, in diesem psychogeographischen Raum, innerhalb dessen die Bewegung der Ideen, der Dialog, die logische Argumentation und Meinung zu Institutionen wurden und unverzichtbare Voraussetzungen für das Menschsein waren, in diesem Raum, der inspiriert wurde von den BOULAIOI (Ratsmitgliedern), AGORAIOI (Markttagen), THESMIOI (Schiedsrichtern/Gesetzgebern), FILIOI (abgeleitet von Freundschaft), ETAIREIOI (Hetairen), LESCHANORIOI (Lesche = Versammlungs- und Beratungsort) Göttern, setzte sich der christliche Gegenentwurf von der völligen Abschaffung aller politischen Institutionen durch, der Untergrabung des Dialogs, der logischen Argumentation und Meinung. Die Kirche wurde als einzige (nicht nur) gesellschaftliche Institution zugelassen.

Das Individuum hatte kein Recht mehr zur Menge zu sprechen. Das Rederecht hatten nur die Herrschenden, eine alptraumhafte Rede ohne Gegenargumente, auch in den Kirchen war es nicht erlaubt (und ist es bis heute nicht) Fragen zu stellen oder vor der gesichtslosen Basis Reden zu halten.

Wie schon erwähnt, hat Ende des 18. Jahrhunderts die Guillotine die Theokratie abgerissen, ohne jedoch die wirkliche, d.h. unmittelbare, Demokratie wiedererrichten zu können, trotz der Aufschreie der „Montagnards“ [2] gegen den Repräsentationsbetrug. Was sich letztlich durchsetzte, war der lächerliche englische „Parlamentarismus“, während von der französischen Explosion letztlich nur die naive Gleichmacherei der „Egalite“ übrig geblieben ist; anders die wirkliche Demokratie, die jedem, der nur Mensch gewesen und sprechen konnte, auf den sehr unbequemen Sockel des Polites (Bürger mit aktivem und passivem Wahlrecht) hinaufzusteigen erlaubte: „die moderne westliche politische Kultur wurde auf der Basis utopischer Ideale und besonders auf der widersprüchlichen Utopie der französischen Revolution erschaffen, deren angenommene Umwandlung zur politischen Wirklichkeit die Sicherstellung menschlicher Rechte bedeutete, ohne jedoch auf die Pflichten hinzuweisen“ (Pan. N. Hiotis, Die Tradition der Aufklärung in Griechenland, S. 306, Athen 1998).

Diese Degradierung der Demokratie und des Polites (Bürgers) führte schnellstens zu der Situation, die wir alle heute um uns herum beobachten können, obwohl fast niemand wagt, dies auch zuzugeben: die ungeheuerliche Kombination einer „harten Oligarchie“ (eine sehr gefährliche dazu, weil sie unter anderem auch noch als gewählt gilt) und einer absoluten „Idiotenherrschaft“ (wie der unvergessliche Evangelos Lempesis den Terminus sehr weise formuliert hat). Diese degradierte Demokratie kommt nun als neue absolute Wahrheit daher, als wenn die Arroganz des Christentums nicht gereicht hätte, und posiert als die angeblich beste Regierungsform, während sie doch nur eine vulgäre Fälschung der echten, tradierten und unmittelbaren Demokratie unserer Vorfahren ist.

Die wahre und unmittelbare Demokratie setzt voraus, dass der Bürger leichten Zugang zu allen Regierungsämtern hat, etwas, das der heutige Parlamentarismus nicht anbietet, weil er massive wirtschaftliche Mittel voraussetzt, die benötigt werden, um einen einigermaßen wirksamen Wahlkampf zu organisieren: Aristoteles betont sehr richtig und mit absoluter Klarheit, dass eine „oligarchische Herrschaftsform existiert, wenn die Wohlhabenden herrschen, (Politik, 1279b). Unmittelbare Demokratie bedeutet aber auch Meinungsäußerung nur für die aktiven, frei denkenden und informierten Bürger, denn das Gleichmachen der Bürger […] stellt im Grunde eine Entwürdigung des Menschen und eine Tyrannei der Elenden dar: „die Kultur, die die Gleichmachung des Individuums und die Verbrüderung basierend auf dem christlichen Codex vor dem Gesetz bringt, ist eine politisch, bildungsmäßig und gesellschaftlich gestutzte Kultur, denn sie lässt die menschliche Tugend außen vor“ (Pan. N. Hiotis, S. 307).

Diese Notizen des Verfassers über die wahre Natur der Demokratie werden möglicherweise viele und verschiedene Diener des entwürdigenden und fälschenden globalen Jerusalem stören. Es tut uns leid, aber wir werden bald mit diesem Thema zurückkehren, sogar mit detaillierteren Thesen und Vorschlägen, welche, wie wir meinen, überdringlich sind in einer Epoche, wo „berühmte“ Personen zu Parlamentariern gewählt, von der Fernsehglotze an alle TV-Idioten gebracht und auf diese Weise durchgesetzt werden. Wir werden zurückkehren z.B. für eine gerechte Auseinandersetzung mit den Gleichgültigen, welche sich aus freiem Willen am Rand aufhalten, und mit der Einladung an alle regelmäßig aktiven und somit natürlichen Bürger, auf täglicher Basis mit Hilfe der Informationstechnologie über alle Gesetzesentwürfe abzustimmen, die eine einzige einfache gesetzesvorbereitende Körperschaft an Stelle des heutigen Parlaments zu erarbeiten und anschließend dem aktiven Demos vorzulegen hat.

So viel dazu. Der Verfasser hofft nicht zu anstrengend oder, noch schlimmer, lästig geworden zu sein. Wenn einige sich aber wegen seiner unerbittlichen Verurteilung der Idiotenherrschaft und Entwürdiger der politischen Taten und Thesen besonders unwohl fühlen, tut es uns zwar leid, doch können wir sehr wenig zu ihrer Beruhigung vorbringen.

Und zum Schluss quasi das Dessert: Wir alle sollten uns bewusst werden, dass der Anfang unserer Beherrschung und Unterwerfung darin besteht, dass wir es sind, die eine Reihe von verwerflichen Zuständen als würdig erachten, ewig Asyl zu genießen und unangreifbar zu belassen. Der Anfang unserer Unterwerfung besteht auch darin, dass manche andere uns überzeugt haben, dass alle Gedanken, die wir in unseren Köpfen schleppen, angeblich vollkommen unsere eigenen seien.

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1 vom Übersetzer zum besseren Verständnis zugefügt.

2 Bergpartei: Die Bergpartei (französisch: La Montagne), deren Mitglieder Montagnards genannt wurden, war während der Französischen Revolution eine politische Gruppierung im Nationalkonvent. Der Begriff wurde zwar zuerst während der Sitzungen der Gesetzgebenden Versammlung für die Abgeordneten auf den höchsten Sitzreihen verwendet, kam aber erst 1793 allgemein in Gebrauch.
Bei der Eröffnung des Konvents umfasste die Gruppe der Montagnards, Männer mit sehr verschiedenen Ansichten, und der Zusammenhalt, der sich in der Folge ergab, lag eher an der Opposition ihrer Führer gegen die Führer der Girondisten, als an einer fundamentalen Feindschaft zwischen den beiden Gruppen. Der Hauptunterschied war, dass die Girondisten hauptsächlich Theoretiker und Denker waren, während die Bergpartei fast ausschließlich aus Männern der Tat bestand. Während ihrer Auseinandersetzung mit den Girondisten gewannen die Montagnards im Jakobinerclub die Oberhand und für eine Zeit waren Jakobiner und Montagnard synonyme Begriffe. Die Bergpartei stand nacheinander unter dem Einfluss solcher Männer wie Marat, Danton und Robespierre. Die Gruppe verschwand schließlich nach Robespierres Tod (28. Juli 1794) und dem Erfolg der französischen Armeen.

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