11/07/»2013«
Ein Polytheist stellte mir neulich die Frage, bis zu welchem Grad der Hellenismos eine Anpassung an heutige Gegebenheiten zulasse. Athen sei zwar ein »konstruktiver Ausgangspunkt«, denn das religiöse System Athens sei gut dokumentiert und der attische Kalender vollständig erhalten, aber die Religion sei damals eine extrem lokale Angelegenheit gewesen. Die Frage lautet nun, ist es besser die religiöse Praxis Athens fehlerfrei zu rekonstruieren oder wäre es nicht besser, zwar dem athenischen Modell zu folgen, aber nur dahingehend, eine religiöse Praxis zu schaffen, welche der eigenen lokalen Umgebung entspricht? Sollen wir den »Ritualkalender« Athens befolgen, auch wenn wir in Somalia, England oder in Kalifornien (USA) leben oder sollte die religiöse Praxis in all diesen Städten eine andere sein, weil auch in der Antike von Polis zu Polis ein anderer Hellenismos gepflegt wurde?
Die Frage ist berechtigt, denn wie sollst du die hellenische Religion revitalisieren, wenn du nicht weißt, wie du vorgehen oder wo du anfangen sollst? Ich antwortete, dass ich in Deutschland lebe und den heutigen – nicht den antiken Hellenismos – praktiziere, ohne Elemente in das religiöse Gefüge einzubauen, heißt: ohne den Hellenismos zu verwestlichen, was ihn seiner Identität berauben würde. Aber es versteht sich von allein, dass jeder Hellenismos nur ein angepasster sein kann, nämlich angepasst an die jeweiligen rechtlichen, politischen, äußeren Umstände. Der Kern des Hellenismos ist und bleibt, trotz aller Anpassung, im klassischen Athen zu finden, denn die Polis Athen bildete den Referenzpunkt für die Wiederherstellung des Hellenentums durch Plethon im ausgehenden Mittelalter. Es ist die Annäherung an den Geist einer Zeit vor dem willkürlichen Synkretismus der hellenistischen Zeit, dem Mystizismus der Spätantike, dem Erscheinen des Christentums. Aber der Hellenismos ist nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart. Als lebendige Gegenwart ist er kein Monolith, sondern Ausdruck einer Kontinuität in der Sprache, der Literatur, den Sitten, Bräuchen und religiösen Elementen eines Volkes, das nicht nur das heutige Griechenland bevölkerte, sondern auch Kleinasien, den Pontos und Ägypten — und das bis ins 20. Jahrhundert.
Athen bietet sich als Grundlage an, weil sie die einzige Polis ist, über die wir so viel wissen und weil die Mehrheit der heutigen Hellenen Athener sind. Klar, auch der spartanische oder kretische Kult gehört zum Hellenismos, zumal dieser sich um das lokale und regionale Moment dreht. Darüber hinaus spielt sowohl die Zugehörigkeit zu den Stämmen als auch der Panhellenismus eine große Rolle. Die Vielheit der Stämme, lokaler Bräuche und Dialekte macht die Vielfalt des Hellenismos aus. Nun ist es aber so, dass sich Attika historisch durchgesetzt hat und deshalb entsteht der Eindruck, dass Athen den Hellenismos dominiert. Dieser Eindruck ist nicht richtig, aber auch nicht ganz falsch, denn das Lokale ist nicht verschwunden, allerdings macht es in der öffentlichen Wahrnehmung einem breiteren Konsens Platz. Für mich als Pontos-Griechen spielt Athen nur eine untergeordnete Rolle, obwohl die Pontos-Griechen aus Trapezounta und die Athener beide zum ionischen Stamm gehören.
Doch der Hellenismos ist nicht nur Athen; wir müssen auch die späteren Entwicklungen berücksichtigen, und damit ist die Spätantike (Sallustius, Julian) und das Mittelalter gemeint (Plethon, Marullus). Wir können nicht nur auf die klassische Zeit schauen und die spätere Entwicklung ignorieren, schon deshalb nicht, weil der Hellenismos im Mittelalter auf philosophischer Grundlage erneuert wurde und nicht die Religion des klassischen Athen war. Der Hellenismos auch die Bildungstradition, Weltanschauung, die politischen Ansichten und das Wertesystem der Hellenen, aller Hellenen, nicht nur der Athener der klassischen Zeit. Das ist der Unterschied der lebendigen Tradition zum Reenactment. Wir revitalisieren marginalisierte Elemente einer bestehenden Kultur, schütteln die Ketten einer aufgezwungenen Identität von uns und durch die Hinwendung zur indigenen griechischen Kultur nehmen wir eine neue Identität an, die wir als unsere eigene erkennen. Vor diesem Hintergrund sind die Entwicklungen der letzten 500 Jahre viel wichtiger als eine undefinierte Antike.
Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass der Hellenismos bereits an die heutige Zeit angepasst ist, aber eben nicht an die Moderne. Deshalb kann er überhaupt funktionieren. Wäre der Hellenismos nicht an das Hier und Jetzt angepasst, könnten wir ihn gar nicht leben, deshalb scheint die Frage etwas »künstlich«. Aber diese Anpassung vollzieht sich unter dem Eindruck des unmittelbaren Bezugs zur Tradition und dem Druck der Notwendigkeit. Vieles ist für immer verlorengegangen, anderes ist nur zum Teil erhalten. Dennoch ist die Lebensweise des Hellenismos in ihrer Abstammung und Wesenheit griechisch, weil sie auf dem Ethos der Hellenen fußt, heißt: auf einem zeitlosen Wertesystem, das mit einem Wort umschrieben wird: Arete.
Solange wir den Hellenismos leben, wird dieser wachsen, sich entwickeln und vor allem in der Diaspora neue Formen annehmen, aber das ist nichts Neues und unterscheidet sich nicht von ähnlichen Entwicklungen in der Antike, wenn ich zum Beispiel an Marseille oder Baktrien denke. Wir dürfen nicht vergessen, dass die hellenische Religion zu Beginn der 1980er revitalisiert wurde, wobei der erste Impuls von Angelos Sikelianos und seinen Delphischen Wettspielen gesetzt wurde. Aber viele Kulte haben bis heute überlebt und bedürfen gar keiner Revitalisierung im eigentlichen Sinne. Ein Beispiel dafür ist der Kult der Panagia Aphroditissa. Die erste öffentliche Orthopraxie fand im Sommer des Jahres »1987« in Griechenland statt. Die Anpassung an heutige Gegebenheiten, die tatsächlich von lokalen und persönlichen Faktoren abhängig sind, fand nicht um irgend einer Erneuerung willen statt – die entscheidenden Faktoren sind immer Machbarkeit und Bestand gewesen. Unter diesem realen Bezug zu den konkreten Bedürfnissen, Möglichkeiten und Rahmenbedingungen formierte sich die Rehellenisierungsbewegung.
Unser Ziel bleibt die vollständige Wiederherstellung der griechischen Kultur auf der Grundlage dessen, was übrig geblieben ist und in sich den Samen der Regeneration trägt. Aber eine Rehellenisierung hätte es ohne Anpassung nie geben können. Wir sind keine antiken Griechen. Wir leben heute, gehören in diese Zeit und weder wollen noch können wir in die Vergangenheit (welche denn?) zurück. Wir wollen die Kultur wiederherstellen, nicht eine bestimmte Periode dieser Kultur. Gleiches gilt für die Religion.
Aus diesen Gründen müssen wir uns über die Machbarkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Revitalisierung nicht den Kopf zerbrechen, denn sie ist längst Realität – vor allem dank des Obersten Rates der ethnischen Hellenen (YSEE), der, wie sogar Evangelos Voulgarakis zugeben musste, bezüglich der Orthopraxie »sein Bestes tut«. Aber das ist ihm nur aufgrund seiner lebendigen Beziehung zu den konkreten Bedürfnissen unserer Zeit und eines bestimmten Verständnisses von Tradition als lebendige Gegenwart möglich, eines Ist-Seins, welches nicht nur Religion ist, sondern auch Sprache, Sitten, Schrift, Musik, Kunst, Literatur und Identität.